Tschechische Firmen im Südwesten des Landes leiden unter Arbeitermangel, da immer mehr Bewohner der grenznahen Region zum Geldverdienen nach Deutschland pendeln. Die Anreize: Dreimal höhere Löhne als im tschechischen Durchschnitt und das deutsche Kindergeld. Ein Bericht von EURACTIV Tschechien.
Tschechische Firmen können einfach nicht mit den Arbeitskonditionen mithalten, die die deutschen Arbeitgeber bieten: So können tschechische Arbeiter in Deutschland sogar Sozialleistungen für ihre Kinder erhalten, wenn diese nicht einmal in Deutschland leben. Nach deutschem Recht stehen dem tschechischen Mitarbeiter, der in die deutschen Sozialsysteme einzahlt ,automatisch monatlich je 194 Euro Kindergeld für das erste und das zweite eigene Kind zu.
„Selbst wenn die Entlohnung über die Grenze hinweg gleich wäre, würden die Menschen dennoch nach Deutschland wandern, um Kindergeld zu beziehen,“ sagte auch die tschechische Europaabgeordnete Martina Dlabajová von der liberalen ANO-Partei (ALDE-Fraktion) während einer von EURACTIV.cz organisierten Podiumsdiskussion zur EU-Sozialpolitik.
Darüber hinaus haben alleinerziehende Mütter und unterprivilegierte Haushalte Anspruch auf den Kinderzuschlag. Zusätzliche Anreize und Privilegien, die deutsche Arbeitgeber am Arbeitsplatz anbieten, seien weitere Gründe zum Pendeln.
Gezielte Anwerbung tschechischer Arbeiter
Deutsche Arbeitsvermittler und Arbeitgeber organisieren regelmäßig Anwerbungsveranstaltungen in der Region Pilsen. Ziel ist es dabei, potenzielle Arbeitnehmer über die Arbeitsbedingungen in Deutschland zu informieren und Bewerber über die damit verbundenen Vorteile aufzuklären.
„Die tschechischen Firmen kritisieren diese Rekrutierungspraktiken seit langem. Wenn die tschechischen Arbeitsbehörden deutsche Arbeitskräfte genauso proaktiv wie ihre deutschen Kollegen über die Grenze anwerben würden, wäre es ein faires Spiel. Aber wir sind eindeutig diejenigen, die unter dieser Abwanderung leiden,“ erklärt die Chefin der Handelskammer der Region Pilsen, Radka Trylčová.
Leiharbeiter ersetzen Arbeitskräfte vor Ort
Während Tschechen nach Deutschland ziehen, um dort vor allem niedere Tätigkeiten auszuüben, werden den Deutschen in der Tschechischen Republik eher Führungspositionen zugewiesen, so Trylčová weiter. Aufgrund dieser Diskrepanz müssten tschechische Unternehmer inzwischen anderswo nach Ersatzarbeitern suchen. Sie wenden sich daher an Personalagenturen, die Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten unter Vertrag nehmen.
Filip Zapletal, der Leiter des Büros für soziale Angelegenheiten in der Region Pilsen, berichtet, dass sich seine Abteilung oft mit Leiharbeitern beschäftigen muss: Viele von ihnen müssten sich zu oder vor Beginn ihrer Verträge vorübergehend auf der Straße aufhalten. Ein weiteres Problem entstehe, wenn Vertragsarbeiter in Schlafquartieren in dünn besiedelten Gebieten oder Dörfern wohnen. So müssten plötzlich ein paar Dutzend Arbeiter aus allen Ecken Europas neben mehreren Dutzend Einheimischen leben, was zu Spannungen führen könne.
EU-Koordinierung der Sozialsysteme
Die Anwerbung tschechischer Arbeitskräfte durch in Deutschland ansässige Unternehmen ist jedoch kein isolierter Einzelfall. Innerhalb der Europäischen Union hat sich die Zahl der Menschen, die ihr Recht auf Leben und Arbeiten in anderen Mitgliedstaaten ausüben, seit 2008 verdoppelt und liegt nun bei 17 Millionen.
Die Europäische Kommission hat daher vorgeschlagen, die Verordnung über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit aus dem Jahr 2004 zu überarbeiten, um sie besser an die Erfordernisse der aktuellen Situation anzupassen.
Mit der Verordnung wird sichergestellt, dass beispielsweise tschechische Arbeitnehmer, die einen Beitrag zum deutschen Sozialversicherungssystem leisten, genauso behandelt werden müssen wie ihre deutschen Kollegen. Darüber hinaus berücksichtigt die Verordnung bei der Berechnung der genauen Höhe einer Sozialhilfeleistung alle bisherigen beruflichen Tätigkeiten des Empfängers – unabhängig vom Beschäftigungsland.
Somit können Menschen also auch dann von Sozialzahlungen profitieren, wenn sie nicht in dem Land, in dem sie beschäftigt sind, leben oder je gelebt haben. Dies ist der sogenannte europaweite Übertragbarkeitsgrundsatz in der Sozialhilfe.
Zum Stand der Verhandlungen über eine mögliche Reform der Verordnung erklärt die Europaabgeordnete und Mitglied des EMPL-Ausschusses (Beschäftigung und soziale Angelegenheiten) Dlabajová, es sei bisher „noch kein konkreter Vorschlag auf dem Tisch“. Entscheidend sei ihrer Ansicht nach vor allem, Fragen nach der Zahlung von Arbeitslosen- oder Kindergeld zu klären.
Sie brachte das Beispiel rumänischer Arbeiter, die in Belgien leben und arbeiten, während ihre Kinder in Rumänien bleiben, an und fragte: „Wo sollten die Eltern das Kindergeld erhalten – in Belgien oder Rumänien?“
Weitere europäische Desintegration verhindern
Weiterhin herrscht Unsicherheit in Bezug auf die Reform der Verordnung.
Die laufenden Verhandlungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit könnten das gleiche Schicksal erleiden wie die Revision der Entsenderichtline, bei der die Mitgliedstaaten mehr als zwei Jahre brauchten, um eine Einigung zu erzielen, warnten Teilnehmer der EURACTIV-Veranstaltung.
Frankreich, Belgien und andere westliche Mitgliedsstaaten protestierten gegen Unternehmen aus den jüngeren Mitgliedsstaaten. Die von diesen Firmen gezahlten Niedriglöhnen würden den Wettbewerb in den alten Mitgliedsstaaten untergraben und die Einkommen aller Arbeiter nach unten drücken.
Nach Beschwerden dieser Länder hat die Europäische Kommission mit einer überarbeiteten Fassung der Richtlinie reagiert, in der der Grundsatz der gleichen Vergütung für die gleiche Arbeit am gleichen Ort verankert ist.
Das heißt konkret: Wenn tschechische Mitarbeiter für einen Einsatz in Deutschland verpflichtet werden, erhalten sie den gleichen Betrag wie ihre deutschen Kollegen oder potenzielle Konkurrenten aus Deutschland.
Während die tschechische Industrie den Vorschlag kritisiert, loben die Gewerkschaften ihn in den höchsten Tönen. Sie hoffen, dass eine solche Gesetzesänderung auch zu Lohnerhöhungen in der Heimat führen wird.
Jindřich Brabec, der Vorsitzende des Regionalrates des tschechisch-mährischen Gewerkschaftsbundes, ist sich sicher: „Wir sollten den komparativen Wettbewerbsvorteil, den wir aufgrund unserer niedrigen Löhne haben, eindämmen. Wenn die Gehälter zumindest ähnlich wären, müssten Frankreich, Belgien und andere Staaten keine künstlichen Hindernisse schaffen.“