Immer größerer Beliebtheit erfreut sich das Erasmus-Programm, das den europäischen Austausch von Studenten fördert. Waren es im Startjahr nur 3.244 Studierende, die daran teilgenommen haben, verbrachten im Jahr 2005 schon mehr als 144.000 Studierende ein oder zwei Erasmus-Semester an europäischen Hochschulen.
Ganz oben auf der Erasmus-Hitliste rangieren immer noch die „Klassiker" Spanien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Mittlerweile können die Studierenden für ein oder zwei Semester an Partneruniversitäten in 31 Ländern gehen. Neben den 27 EU-Mitgliedstaaten nehmen auch Norwegen, Liechtenstein, Island und die Türkei an dem EU-Programm teil.
Doch nicht nur die Nachfrage steigt, die EU stellt auch mehr Mittel bereit: Von 950 Millionen Euro (für den Zeitraum 2000-2006) hat die EU, auch Druck des Europäischen Parlaments hin, die Gelder auf 3,114 Milliarden Euro für den Zeitraum 2007 bis 2013 aufgestockt. Ziel ist es, im Jahr 2012 den drei Millionsten Erasmus-Studenten in ein anderes Land zu schicken.
Lernen fürs Leben: Fremdsprachen, Toleranz, Anpassungsfähigkeit
Auch einige Europa-Abgeordnete haben während ihrer Studienzeit an dem Erasmus-Programm teilgenommen und im europäischen Ausland studiert. Der italienische EU-Parlamentarier Guisto Catania (Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke) zum Beispiel war 1995 Erasmusstudent in Amsterdam: „Ich erinnere mich mit großer Begeisterung an diese Zeit. Während dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass der kulturelle Austausch fundamental ist: Europäische Kultur und europäische Identität müssen zusammengeführt werden.“
Auch der schottische Abgeordnete Alyn Smith (Grüne/Freie Europäische Allianz) hat in den frühen 1990er Jahren in Heidelberg als Erasmus studiert: „Das Wichtigste, was ich gelernt habe, war der Wert, in der EU zu leben. Natürlich besuchte ich Kurse, verbesserte mein Deutsch, lernte das Rechtssystem kennen, aber was wirklich zählt beim Erasmusaustausch, war es zu lernen, dass man in einem anderen Land und einer anderen Kultur leben kann und dort willkommen geheißen wird.“
Der belgische EU-Abgeordnete Saïd El Khadraoui (SPE) war 1997 Erasmusstudent in Paris: „Ich habe eine sehr gute Erinnerung an meine fünf Monate in Paris: Ich habe Sprachen gelernt, Menschen kennen gelernt, mit denen ich heute noch Kontakt habe, Freunde fürs Leben! Als Erasmus muss man lernen, eigenständig zu leben, ohne Mama und Papa. Man erweitert besonders seinen Horizont: Erst wenn man auf so unterschiedliche Leute trifft, fängt man an, zu relativieren und die Unterschiede besser zu verstehen. Das ist sehr bereichernd.“
Erasmusleben gleich Party pur?
Catania: „Die Studenten sollen ihre Heimatkultur mit denen der anderen austauschen, das machen sie eben auch, indem sie zu den gleichen multikulturellen Parties gehen, Musik aus den jeweils anderen Ländern hören und Spezialitäten aus ganz Europa probieren, die sie noch nie zuvor gegessen haben. Es ist eine fundamentale Eigenschaft der Erasmus-Philosophie, es zu schaffen, beides zu verbinden. Diese Aktivitäten und dieses Umfeld müssen erhalten bleiben.“
Smith: „Der Studienteil ist wichtig, aber sich unter Leute aus anderen Ländern zu mischen, andere Sprachen zu lernen, Zeit in anderen Kulturen zu verbringen ist genauso Teil der Erasmus-Erfahrung.“
„Ohne das Erasmus-Studium wäre ich nicht EU-Parlamentarier geworden"
El Khadradoui: „Die Arbeitgeber schauen nicht nur auf das Diplom, sondern auch auf die Persönlichkeit des Bewerbers. Ein Erasmus-Student gewesen zu sein, lässt auf Anpassungsfähigkeit und Sprachenkenntnisse schließen. Es stellt eine zusätzliche Erfahrung dar und ist somit ein Vorteil im Vergleich zu anderen.“
Smith: „In beruflicher Hinsicht war es unglaublich hilfreich, diese Zeit weg von Zuhause, in Europa, verbracht zu haben. Tatsächlich kann ich mit Sicherheit behaupten, dass ich nicht Europaparlamentarier geworden wäre, wenn ich nicht die Erasmus-Erfahrung gemacht hätte.“
Finanzielle Barrieren: Ist Erasmus ein selektives Programm?
Die durchschnittliche Erasmus-Förderung liegt bei 150 Euro um Monat. Das ist wenig im Vergleich zu den realen Lebenskosten, wenn man im Ausland studiert.
Viele Studenten, die keine große finanzielle Unterstützung von zu Hause erwarten können und keinen Anspruch auf andere staatliche Förderung haben, können sich die Teilnahme daher unter Umständen nicht leisten. Deswegen hatte das Europäische Parlament ein Mindeststipendium von 300 Euro im Monat gefordert, als die Neuauflage des Programms für die Periode 2007 bis 2013 verhandelt wurde. Am Ende stand ein Kompromiss mit dem Ministerrat und man landete bei 200 Euro pro Monat.
Eine Studie zu den sozio-kulturellen Hintergründen von Erasmus-Studenten belegt das finanzielle Gefälle: Zum großen Teil profitieren Studenten von dem Austauschprogramm, deren Eltern einen über dem Landesdurchschnitt liegendes Einkommen haben. Zudem gab etwa die Hälfte der befragten Studenten an, dass finanzielle Schwierigkeiten ein reelles Hindernis darstellen, an dem Programm teilzunehmen.
„150 Euro sind zu wenig"
Catania: „Mein Stipendium bestand aus 350.000 Lire (etwa 170 Euro). Bevor ich nach Amsterdam ging, hatte ich beschlossen, Geld zu sparen, indem ich Privatunterricht in italienischer Literatur gab. Ohne dieses Geld hätte ich mir den Erasmus-Aufenthalt nicht leisten können und hätte diese wichtige Erfahrung für meine Ausbildung nicht erlebt. Erasmus-Stipendien sind absolut inadäquat. Wir sollten den Zuschuss erhöhen, ansonsten kommt es zu einer automatischen ökonomisch-sozialen Auswahl. 150 Euro sind zu wenig!“
El Khadraoui: „Die Gefahr ist, dass nur eine kleine wirtschaftliche und intellektuelle Elite von dieser Möglichkeit profitiert. Man muss kreativ werden, damit jeder die Chance hat, im Ausland zu studieren: Man könnte zum Beispiel ein Stipendium mit einem zinsloses Darlehen verbinden, das man zurückbezahlt, sobald man im Arbeitsleben steht."
Eine Studie schlägt folgenden Lösungsansatz vor: Die Stipendien sollten zielgerichteter und bedarfsgenauer verteilt werden, je nach Heimat- und Zielland. Somit würden mehr Studenten von dem Programm profitieren.
Weitere Informationen :
- Studie zum sozio-ökonomischen Hintergrund von Erasmus-Studenten (EN)
- Was ist das Sokrates/Erasmus-Programm ?