Im Folgenden werden die sieben wichtigsten Bedeutungsgehalte zusammengefasst (1).
1. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne von Multikulturalität. Obwohl dieser Terminus heute weit verbreitet ist und mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden wird, kann man sagen, dass Multikulturalität angelsächsischen Ursprungs ist; speziell bezogen auf die USA, impliziert er affirmatives Handeln von Minderheits-Kulturen (Nicht-Weissen, Nicht-Okzidentalen) gegenüber der herrschenden WASP-Kultur [White, Anglo-Saxon, Protestant]. In diesem Verständnis bedeutet Vielfalt eine Form der gesellschaftlichen Aufsplitterung und führt dazu, dass der soziale und nationale Zusammenhalt durch ein Nebeneinander von kulturellen Gemeinschaften, die durch kein Band miteinander verbunden sind, ersetzt wird.
2. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne kultureller Ausnahmestellung, bezogen auf das Verhältnis von Kultur und Kommerz. Dies bedeutet, dass kulturelle Güter und Leistungen nicht als Waren im üblichen Sinne betrachtet werden. Ihnen muss eine besonderer Status (eine Ausnahmestellung) im Rahmen der umfassenden Abmachungen zur Liberalisierung des Handels und der Wirtschaftsbeziehungen eingeräumt werden (General Agreement on Tariffs and Trade GATT; General Agreement on Trade in Services GATS; Welthandelsorganisation WTO; Multilaterales Investitions- Übereinkommen MIÜ etc.) Diese Ausnahmeregelung muss den Staaten vor allem erlauben, ihre eigenen Formen der Stärkung und Förderung von Kultur beizubehalten. Dies ist der Grundgedanke der Erklärung über die kulturelle Vielfalt, wie sie unlängst das Ministerkomitee des Europarates gebilligt hat.
3. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne kultureller Rechte. Hier geht es um den Bereich der Menschenrechte, um das Recht der Person auf ihre Identität (Sprache, Name etc.) und auf ihr Kulturerbe. Dadurch werden die Bereiche der politischen und sozialen Rechte insofern ergänzt, als Kultur zu einem Gebiet wird, das denselben Schutz verdient wie die anderen Bereiche. Im Gefolge des Wiener Gipfels (1993) hat der Europarat das Projekt eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bezüglich der kulturellen Rechte
lanciert, ein Projekt, das mangels Übereinstimmung unter den Mitgliedsstaaten aber nicht zustande gekommen ist.
4. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne des Schutzes der Minderheiten sowie der Regional- und Minderheitensprachen. Dabei handelt es sich um eine ähnliche Frage wie bei den kulturellen Rechten, doch hat sie ihrerseits zwei wichtige Dokumente des Europarates bewirkt, die Rahmenkonvention zum Schutze der nationalen
Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen.
5. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne der Beziehung zwischen Kultur und Entwicklung. Dies ist der Begriff, der seitens der UNESCO im Pérez de Cuellar-Report, „Notre diversité créatrice“, definiert worden ist. Diesem Ansatz zufolge sind Bewahrung und Förderung der unterschiedlichen Kulturen auf der Welt die absolut notwendige Vorbedingung für eine harmonische und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaften, sowohl auf der politischen und sozialen als auch auf der wirtschaftlichen Ebene.
6. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne friedlichen Zusammenlebens und wechselseitigen Verständnisses zwischen Gruppen und Gemeinschaften, die im selben Lande oder in derselben Gesellschaft leben, aber nicht derselben Kultur (Sprache, Religion etc.) angehören. Dies ist der schweizerische Ansatz, demzufolge der Begriff Vielfalt vor allem Harmonie und Einvernehmen unterschiedlicher Komponenten in ein und demselben Ganzen bedeutet. Aus dieser Sicht besteht das Ideal nicht darin, die Rechte der einen in Bezug auf die anderen zu betonen, sondern Austausch und Dialog anzustreben, die zu wechselseitigem Verstehen und friedlichem Miteinander führen. Diese Konzeption hat teilweise Eingang in die Querschnitt-Studie des Europarates über den Umgang mit kultureller Vielfalt gefunden.
7. Kulturelle Vielfalt – verstanden im Sinne von Kulturpolitik. Hier liegt das Prinzip zugrunde, dass die Kulturpolitik eines Landes Unterschiede in den Kulturen, die im Lande leben, widerspiegeln sollte. Daher darf sich die Kulturpolitik nicht damit begnügen, das [Selbst-]Bild der dominierenden Schichten einer Gesellschaft zu reflektieren, sie muss vielmehr darüber wachen, dass das Kunstschaffen aus verschiedenen Sparten (Ausstellung, Theater, Museen, Kino, Musik etc.) die Gesamtheit der kulturellen Vorstellungen einer Bevölkerung widerspiegelt. Diese Position vertritt man vor allem in Kanada, und sie kommt auch in der Querschnittstudie über den Umgang mit der kulturellen Vielfalt zur Geltung. Aufs Ganze gesehen, kann man sagen, dass in den meisten Fällen der Begriff der kulturellen Vielfalt auf „Gesellschaft“ bezogen wird, das heisst auf ein vorhandenes Zusammenleben mehrerer Kulturen in ein und demselben Lande. Dieses Zusammenleben kann zum Ausdruck gelangen durch affirmatives Handeln (Multikulturalität), durch die Garantie von Rechten (kulturelle Rechte, Schutz der Minderheiten und der Sprachen), als Ausgangsbedingung für nachhaltige Entwicklung oder durch das Bestreben nach Dialog und wechselseitigem Verstehen (wie es für die Schweiz zutrifft). Dagegen versteht sich kulturelle Vielfalt – besonders in Punkt 7 und 2 - vor allem als Ausdruck für „schöpferische Leistung“ und „Kreativität“: sie ist die Vielfalt künstlerischen Schaffens gegenüber monolithischer kultureller Selbstdarstellung der herrschenden sozialen Schichten, beziehungsweise die Bewahrung der Vielfalt von kulturellen Gütern und Leistungen gegenüber den Risiken einer Vereinheitlichung des Marktes: Es ist eindeutig diese letzte, auf Kommerz bezogene Deutung, die dem Begriff der kulturellen Vielfalt international zur Anerkennung verholfen hat.
Anmerkungen:
(1) Zum besseren Verständnis der Unterschiede wurde die Darstellung bewusst vereinfacht und schematisiert. B.W.