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Date :  2018-06-05
langue :  Allemand
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Tweets der Infamie

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NEW YORK – Roseanne Barr ist eine amerikanische Komikerin, deren fiktionale Fernsehfigur selben Namens eine der Arbeiterschicht angehörende Trump-Anhängerin ist. Für diejenigen, die sich noch an die US-Sitcom „All in the Family“ erinnern: Man könnte sie nützlicherweise mit Archie Bunker vergleichen, dem kruden proletarischen Patriarchen aus Queens, New York.

Barrs Show wurde Ende letzten Monats vom Sender ABC in aller Eile abgesetzt, und zwar nicht wegen etwas, das ihre „Figur“ in der Show gesagt hatte, sondern wegen eines Tweets, in dem sie Valerie Jarrett, eine afroamerikanische ehemalige Beraterin von Barack Obama, als Progenie der Muslimbruderschaft und des „Planeten der Affen“ bezeichnete.

Einige der Reaktionen waren vorhersehbar, aber deshalb nicht weniger seltsam. Präsident Donald Trump tweetete, dass ABC sich nie für die „schrecklichen Sachen“, die dort über ihn geäußert worden seien, entschuldigt hätte, und dass eine andere Komikerin, Samantha Bee, herausgeworfen werden sollte, weil sie sich beleidigend über seine Tochter Ivanka geäußert habe.

Trumps Gegner beeilten sich, Barrs Rolle und Tweet als typisch für jene Art proletenhafter Bigotterie darzustellen, die der Präsident durch sein Beispiel aktiv ermutige. Viele betrachteten es als eine gute Sache, dass ihre Sendung abgesetzt worden war.

Beide Reaktionen gehen am Ziel vorbei. Barr äußert häufig bizarre Meinungen, die sich nicht an irgendeiner politischen Ideologie festmachen lassen, und sie hat eine lange Geschichte seltsamen Verhaltens, das für nichts typisch ist. Doch Trumps – von seinen Sprechern wiederholte – Sicht, dass Bee mindestens ebenso schlimm sei wie Barr, ignoriert einen wichtigen Unterschied.

Bee verwendete beleidigende Formulierungen (für die sie sich später entschuldigte), um Ivankas Mangel an Protest gegen die Einwanderungspolitik ihres Vaters zu kritisieren. Ob fair oder nicht: Sie attackierte Trumps Tochter wegen ihrer Politik und nicht ihrer Abstammung. Barr machte sich über eine Frau lustig, weil sie eine Farbige ist. Sie mit einem Affen zu vergleichen, hat nichts mit politischen Meinungsunterschieden zu tun; es ist Rassismus.

Keine öffentliche Person muss, sei es per Gesetz oder durch gesellschaftliche Konventionen, gegen Angriffe auf ihre Ideen verteidigt werden. Doch auf der Ethnie beruhende Feindseligkeit ist nicht bloß unzivilisiert; sie ist gefährlich. Ob die Religion, die für viele Menschen ihre Identität ebenso sehr bestimmt wie ihre Hautfarbe, als ideologisch oder als etwas der Ethnizität Näherkommendes eingestuft werden sollte, ist strittig. Die Frage ist, ob man Barr trotzdem im Namen der Redefreiheit verteidigen sollte.

Die Redefreiheit ist in den USA stärker gesetzlich geschützt als irgendwo sonst auf der Welt. Doch die Absetzung von Barrs Show war natürlich keine Rechtsentscheidung. Die Grenzen der Redefreiheit sind nicht allein rechtlicher Art. Unterhaltungsunternehmen oder Massenmedien sind empfindlich gegenüber der öffentlichen Meinung. Hier wird man tendenziell aus wirtschaftlichen Gründen gefeuert, wenn man etwas sagt, das als Beleidigung einer großen Anzahl von Menschen angesehen wird.

Die informellen Grenzen der Redefreiheit unterliegen Normen gesellschaftlichen Anstands. Und diese ändern sich nicht allein mit dem Lauf der Zeit, sondern auch in Abhängigkeit davon, wer sich wann und wo äußert. Komiker kommen normalerweise mit Sachen durch, die sich ein Politiker, Universitätspräsident oder Richter nicht erlauben kann. Bis Trump daherkam, wurden an US-Präsidenten strengere Verhaltens- und Redenormen angelegt als an den Normalbürger.

Da Normen in jeder Gesellschaft kontinuierlich neu ausgehandelt werden, brauchen wir Komiker, Schriftsteller und Künstler, um ihre Grenzen auszutesten. Ihre Arbeiten sind Teil dieser fortlaufenden Verhandlungen. Hätte ABC Barr für etwas gefeuert, das die Figur in ihrer Show gesagt hätte, hätte sie Anlass, sich zu beschweren. Schließlich sollte es fiktionalen Figuren gestattet sein, beleidigend zu sein. Viele Menschen sind möglicherweise mit „Roseanne Barr“ nicht einverstanden, aber krude Offenheit und selbst rassistisches Verhalten sind Teil von Barrs Rolle, genau wie sie das bei Carroll O’Connor in der Rolle des Archie Bunker waren.

Wären Barrs Äußerungen in einem privaten Umfeld gefallen, wäre das ebenfalls kein ausreichender Grund gewesen, ihre Show abzusetzen. Die Frage ist, wie Tweets einzuordnen sind. Tweets sind sowohl persönlich als auch Performance; sie sind öffentlich gemachte private Gedanken – eine Art von Reality Show. Anders ausgedrückt: Sie sind perfekt für einen narzisstischen Selbstdarsteller wie Trump.

Normalerweise bekommen wir die ungefilterten Gedanken anderer Menschen nicht zu sehen oder zu hören – außer möglicherweise in der Kneipe. Leserbriefe an Zeitungen etwa wurden früher sorgfältig ausgewählt, um es zu vermeiden, Hassern und Querulanten eine Bühne zu bieten. Was privat war, blieb privat. Mit dem Internet, wo jedermanns Gedanken – egal, wie widerwärtig oder absurd – öffentlich gemacht werden können, änderte sich das.

Es mag eine Verbindung zwischen dem Aufstieg des Internets und dem weit verbreiteten öffentlichen Misstrauen gegenüber Eliten und Experten geben, doch ist nicht genau geklärt, worin diese Verbindung bestehen könnte. Es wäre leichtfertig, die Desillusion mit den Eliten auf neue Technologien zu schieben. Klar jedoch ist, dass die Kommunikation durch Tweets und webgestützte Kommentare die Vorstellung gestärkt hat, dass Fachwissen redundant ist. Wir sehen dies derzeit in der politischen Sphäre.

Bis vor kurzem trafen die Politiker die meisten wichtigen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, umgeben von Gruppen fachkundiger Berater. Die Bürger wurden über diese Entscheidungen bestenfalls über Zeitungsberichte, Pressekonferenzen oder Fernsehsendungen informiert. Ein derartiges System ist nicht ideal. Weniger Geheimhaltung hätte möglicherweise viele Politiker vor schrecklichen Schnitzern bewahrt.

Nun jedoch basieren einige der wichtigsten Entscheidungen in der mächtigsten Demokratie der Welt auf den ignoranten Launen und ungefilterten Vorurteilen eines tweetenden Präsidenten, der genauso vulgär ist wie „Roseanne Barr“ und so seltsam wie Roseanne Barr. Der einzige größere Unterschied besteht darin, dass ihre Tweets die einer Komikerin zwischen Jobs sind, während seine das Schicksal der Welt verändern können.

Aus dem Englischen von Jan Doolan


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