Ref. :  000041107
Date :  2017-04-18
Language :  German
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Ein Pyrrhussieg für Erdogan?


Als die türkischen Wähler am Ostersonntag über die achtzehn Verfassungsänderungen abstimmten, die bereits von der Nationalversammlung genehmigt worden waren, standen sie vor einer sehr eindeutigen Entscheidung: „Ja“ zu wählen bedeutete, für eine Änderung des politischen Systems ihres Landes zu stimmen und eine neue Ära der türkischen Geschichte einzuleiten. Mehr als ein Jahrhundert des Parlamentarismus wird nun durch ein Präsidentialsystem „alla Turca“ ersetzt, das auf den momentanen Amtsinhaber, Recep Tayyip Erdogan, maßgeschneidert ist.

Angesichts der großen Erfahrung der Türkei beim Schreiben von Verfassungen halten die meisten Rechtsexperten die Änderungen, die von den Wählern mit minimaler Mehrheit befürwortet wurden, bestenfalls für regressiv. Sie scheinen 150 Jahre türkischer Geschichte einfach zu ignorieren, ganz zu schweigen von den einfachsten Grundsätzen liberaler Demokratie.

Im neuen politischen System, das 2019 nach den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Kraft tritt, wird das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft. Die exekutive Macht wird in die Hand eines Präsidenten gelegt, der auch der Anführer einer politischen Partei ist. Die Nationalversammlung – die Gründungsinstitution der türkischen Republik – wird einen Großteil ihrer Macht verlieren, und ihre Möglichkeit, den Präsidenten zu überwachen, wird erheblich geschwächt, da sie jederzeit von eben diesem Präsidenten aufgelöst werden kann.

Darüber hinaus wird das Verfahren zur Ernennung von Richtern geändert. Dadurch erhält der Präsident auch noch eine erhebliche Macht über die Judikative. Die bereits heute gefährdete Unabhängigkeit des Rechtswesens wird weiter geschwächt, und von einer Gewaltenteilung kann keine Rede mehr sein.

Obwohl bei der Abstimmung so viel auf dem Spiel stand – immerhin ging es um die Abschaffung der bewährten politischen Rahmenbedingungen der türkischen Republik – gab es vorher keinerlei ernsthafte Debatte darüber. Immer noch galt der Ausnahmezustand, den Erdogan nach dem Putschversuch im Juli letzten Jahres verhängt hatte. Und während die Türkei vor umfassenden politischen Veränderungen steht, arbeitet ihr Präsident weiter an einem Projekt des sozialen Wandels zur Abschaffung des westlichen Kulturerbes, das bis auf die spätosmanische Zeit zurückgeht.

Die unerbittliche Kampagne im Vorfeld der Abstimmung war von Verschleierungen, Entstellungen und Verunglimpfungen geprägt. Kritiker wurden beschuldigt, mit Terroristen gemeinsame Sache zu machen, und westliche Beamte, insbesondere Politiker der Europäischen Union, mussten offene Angriffe über sich ergehen lassen. Über den tatsächlichen Inhalt der Verfassungsreform allerdings vermied Erdogan, der die Kampagne anführte, jegliche Diskussion. Statt dessen versprach er nur, sie werde die Türkei größer und bedeutender machen.

Während der Kampagne stand fast der gesamte Staatsapparat treu hinter Erdogan – darunter die Provinzgouverneure und ein Großteil der nationalen und lokalen Bürokraten. Alle Gruppen der türkischen Gesellschaft wurden von der Regierung mit wirtschaftlichen Anreizen und staatlichen Geschenken bedacht, und die regierungsfreundlichen Medien wurden sorgfältig instruiert, die „Ja“-Kampagne mit einer absurd sensationalistischen, einseitigen Berichterstattung zu unterstützen. Die meisten anderen Medien hielten sich lieber zurück – oder wurden dazu gezwungen.

Zusätzlich zu dieser staatlich geführten Kampagne gab mindestens 200 dokumentierte Angriffe auf die „Nein“-Aktivisten, einige davon gewalttätig. Viele Mitglieder der kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) – darunter ihre die beiden Parteivorsitzenden, einige andere Parteibeamte und mehrere lokale Funktionäre – sind seit November in Haft.

Durch eine kontroverse Entscheidung des Obersten Wahlrats der Türkei über die Zulässigkeit ungestempelter Wahlzettel wurden die Sorgen über Unregelmäßigkeiten und die Zweifel an der Legitimität der Wahl noch verstärkt. Das Wahlergebnis wird nun massiv angefochten – wenn auch vergeblich. Jedenfalls entsprachen die Kampagne und die Wahl nach Ansicht von Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in keinerlei Hinsicht den etablierten internationalen Standards.

Aber angesichts der bitteren Spaltungen im Land könnte sich Erdogans Triumph als Pyrrhussieg herausstellen. In den türkischen Wirtschaftszentren wie der westlichen und südlichen Küstenregion, dem überwiegend kurdischen Südosten und den beiden größten Städten – Istanbul und der Hauptstadt Ankara – wurde die Verfassungsänderung weitgehend abgelehnt. In dreizehn der zwanzig wirtschaftlich bedeutendsten Städten der Türkei, die 62% des gesamten Nationaleinkommens erwirtschaften, haben die Wähler überwiegend mit Nein gestimmt. Und da aus diesen Städten der größte Teil der wirtschaftlichen und kulturellen Produktion des Landes stammt, wohnen dort auch die am besten ausgebildeten Menschen.

Die Befürworter hingegen stammen fast ausschließlich aus den wirtschaftlich unbedeutendsten, ländlichsten, entlegensten und konservativsten Provinzen mit der niedrigsten Bildung. Dies steht in deutlichem Widerspruch zu der vorwärtsgerichteten Agenda, mit der Erdogan in der Vergangenheit immer erfolgreich war. Symbolisch und politisch besonders bezeichnend ist dabei, dass der größte Widerstand gegen die Verfassungsänderungen aus Istanbul kommt, wo Erdogan 1994 als Bürgermeisterkandidat erstmals die politische Bühne betrat.

Erdogan war über das knappe Ergebnis – und den damit verbundenen Mangel an Unterstützung – sichtlich erschüttert. Aber als Meister der politischen Spiels in Ankara wird er versuchen, am Ball zu bleiben und seinen Kurs weiter zu verfolgen. Die Polarisierung im Inland und eventuelle Abenteuer im Ausland könnten ihm dabei sogar helfen. Dafür, dass er versuchen wird, die Spannungen im Land zu lindern, gibt es keine Anzeichen. In Gegenteil plant er sogar, die Todesstrafe wieder einzuführen – wodurch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unmöglich würde.

Es ist absehbar, dass die nationalen und internationalen Probleme der Türkei, die sich seit dem Putschversuch im Juli letzten Jahres häufen, durch das Abstimmungsergebnis noch verschärft werden. Die gute Nachricht dagegen ist, dass die türkische Zivilgesellschaft immer noch lebendig ist. Trotz Repressionen war sie in der Lage, über alternative Medien und Graswurzelorganisationen ihren Widerstand gegen die Verfassungsänderungen zu organisieren.

Aber dies ist erst der Anfang. Diejenigen, die verhindern wollen, dass die Türkei in die Falle des selbst gewählten Autoritarismus fällt, müssen nun einen neuen politischen Raum schaffen und Führungsalternativen aufzeigen. Geschieht dies nicht, wird Erdogan 2019 die Präsidentschaftswahlen gewinnen – und seine neue Machtfülle schnell so einsetzen, dass sie noch schwerer zu bekämpfen sein wird.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff


Countries : 
- Turkey   

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