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Date :  2016-12-08
langue :  Allemand
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Das Ende der religiösen Gewalt im Nahen Osten


Die Eskalation des Radikalismus, der Gewalt und der Bürgerkriege im Nahen Osten seit Beginn der Aufstände des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2010 hat das Leben und das Wohlbefinden der Menschen dort massiv beeinträchtigt. Die Dringlichkeit, effektive Staaten aufzubauen, die Frieden fördern, mehr Möglichkeiten bieten und Wohlstand schaffen, könnte gar nicht größer sein.

Der Gewalt der letzten Jahre sind bereits über 180.000 Iraker und 470.000 Syrer zum Opfer gefallen. Darüber hinaus wurden 6,5 Millionen syrische Bürger innerhalb ihres Landes vertrieben, und weitere 4,8 Millionen mussten ihre Heimat ganz verlassen. Oft wurden sie in Gefängnissen gefoltert und in Flüchtlingslagern gedemütigt. Schätzungsweise 70-80% der Opfer sind Zivilisten, und die meisten von ihnen Frauen oder Kinder.

Tatsächlich ist nach Angaben des Syrischen Zentrums für Politikforschung die Hälfte der Flüchtlinge und der innerhalb des Landes vertriebenen Menschen unter 18 Jahre alt. Dadurch werden die Zukunftsaussichten der jungen Generation massiv beeinträchtigt. UNICEF berichtet, dass 2,1 Millionen Kinder in Syrien und 700.000 syrische Flüchtlingskinder keine Schule besuchen. Und auch in Jordanien haben 80.000 Kinderflüchtlinge keinen Zugang zu Ausbildungseinrichtungen.

Aber all diese menschlichen Opfer sind nur Symptome eines tiefer liegenden Problems – und entgegen der allgemeinen Ansicht ist dieses Problem nicht der Islam. Die Tatsache, dass radikale Islamisten oder Dschihadisten Muslime sind, bedeutet nicht, dass ihre Religion an sich gewalttätig ist, ganz zu schweigen von ihrem Volk oder ihrer Kultur.

Wenn man sich westliche Nachrichten anschaut, ist es leicht zu sehen, warum so viele dem Islam die Schuld geben. Von der Brutalität des Islamischen Staates in Syrien und im Irak (ISIS) über die Terroranschlage Al-Kaidas bis hin zu der Steinigung ehebrechender Frauen unter dem Scharia-Gesetz in Afghanistan wird die Gewalt im Nahen Osten fast immer der Religion angelastet. Und so wird der Islam häufig in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen.

Aber, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor erklärt, besteht die wirkliche Bedrohung nicht im Islam selbst, sondern im „Blockdenken“. Weniger als 0,5% der weltweiten Muslime sind islamische Extremisten, aber die Berichterstattung der Medien über sowohl den Islam als auch die politischen Entwicklungen im Nahen Osten wird völlig von ihrer radikalen Weltsicht dominiert. Indem solche Berichte die enormen Unterschiede zwischen den Muslimen ignorieren, verstärken sie ein einheitliches und simplistisches Bild des Islam. Dies ist „Blockberichterstattung“. Und, wie Michael Griffin in seinem Buch Islamic State: Rewriting History beschreibt, ist dieses Denken in den Vereinigten Staaten und Europa auf dem Vormarsch.

Daher haben sich viele Menschen Samuel Huntingtons Theorie des „Kampfes der Kulturen“ angeschlossen, die davon ausgeht, dass der Islam mit dem modernen Zeitalter nicht vereinbar ist. Aber diese Annahme ignoriert die Ideen und den Einfluss der frühen islamischen Reformer – von Persönlichkeiten wie Muhammad Abduh oder Jamaleddin al-Afghani – die bis heute auf Muslime in aller Welt Einfluss haben.

Der dauerhafteste Effekt der ersten Reformwelle bestand in der Einführung einer Salafi-Bewegung(konservativer Traditionalisten), die den modernen Staat als Mittel zur Verbesserung des Schicksals der Muslime betrachteten. Immer noch untersuchen heutige muslimische Denker – wie Abdolkarim Soroush im Iran, Tahar Haddad in Tunesien, Fazlur Rahman in Pakistan, Fatema Mernissi in Marokko, Qasim Amin in Ägypten und Mahmud Muhammad Taha im Sudan – die Verbindungen zwischen islamischem Denken und modernen Werten.. Diese Denker, deren Arbeit von radikalen Islamisten vehement abgelehnt wird, hatten auf Generationen muslimischer Intellektueller in aller Welt einen enormen Einfluss.

Dies bedeutet nicht, dass die Religion bei der Gewalt im Nahen Osten keine Rolle spielt. Im Gegenteil, solche Gewalt – wie sexuelle Übergriffe und der willkürliche Entzug individueller und öffentlicher Freiheiten – ist weit verbreitet und nimmt unterschiedlichste Formen an, die durch das Zusammenwirken religiöser Ansichten, kultureller Traditionen, Rasse und Volkszugehörigkeit, Krieg und seine politischen Ursachen bestimmt werden. Sogar die Rekrutierung dschihadistischer Kämpfer kann als Form religiös motivierter Gewalt betrachtet werden, ebenso wie Kinderhochzeiten und Ehrenmorde.

Aber nichts davon bedeutet, dass der Islam von Natur aus gewalttätig ist. Schwammige – und oft bigotte – kulturelle, religiöse oder ethnische Erklärungsversuche können nur zu unklugem oder ganz fehlendem Handeln führen.

Was der Nahe Osten braucht, sind effektive soziale und wirtschaftliche Strategien und Maßnahmen, die an die Wurzeln der komplexen nichtreligiösen Gründe hinter der Gewalt gehen – und ihrer eindeutig nichtreligiösen Folgen. Zwar müssen kulturelle, ethnische und religiöse Faktoren berücksichtigt werden, aber sie sind nicht die Hauptgründe für Arbeitslosigkeit und Marginalisierung.

Die Regierungen des Nahen Ostens müssen mutige und kreative Maßnahmen ergreifen, die sich gegen die mangelhafte Ausbildung, die hohe Arbeitslosigkeit und die allgegenwärtige Korruption richten, die zur Gewalt und zu den Unruhen in der Region beitragen. Solche Bemühungen müssen die Demokratisierung, die wirtschaftliche Entwicklung sowie den Aufbau einer starken Zivilgesellschaft und progressiver Medien fördern. Der Schlüssel liegt nicht darin, alle Themen zu „islamisieren“, sondern in der Entwicklung echter politischer Lösungen zur Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen.

Natürlich ist Ausbildung für eine erfolgreiche Strategie von entscheidender Bedeutung: Die Lehrpläne müssen integrativer werden und das Wissen der Schüler über Religionen und Kulturen erweitern. Allgemeiner betrachtet sollten Schulen auch die Trennung von Kirche und Staat – und eine gut geschützte Religionsfreiheit – verkörpern, die zur Beendigung der religiösen Gewalt im Nahen Osten nötig sind.

Umfangreiche Gewalt wie diejenige im Nahen Osten fügt den Menschen erheblichen Schaden zu, untergräbt die Kapitalbasis, behindert die Produktivität und unterminiert das Wirtschaftswachstum. Ihr Einfluss auf die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen muss bewältigt werden, und die staatlichen Möglichkeiten, dies zu leisten, dürfen nicht unterschätzt oder übersehen werden. Aber solange die Staaten versuchen, ihre Politik in religiöse Begriffe zu setzen oder sie anhand dieser zu legitimieren, wird die Gewalt nicht aufhören.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff


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