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Date :  2016-07-13
langue :  Allemand
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Die schweigende arabische mehrheit muss ihre stimme erheben


ALGIERS – Seit das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen im Jahr 2001 seine Arbeit an den Arabischen Berichten über die menschliche Entwicklung aufnahm, hat sich die Situation in vielen arabischen Ländern noch weiter verschlechtert. Tatsächlich kann man sich in der Region heute nicht einmal darauf verständigen, überhaupt einen neuen Bericht herauszugeben. Dieser Umstand ist bedauerlich, da eine neue gemeinsame Vision für alle arabischen Menschen, insbesondere für die arabische Jugend, eine Voraussetzung für Frieden und Wohlstand im Nahen Osten und Nordafrika ist.

Der erste im Jahr 2002 veröffentlichte Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung wies drei zentrale, die Region hemmende „Entwicklungsdefizite“ aus: Wissen, Stärkung der Frauen und Freiheit. Der laut Beschreibung „von Arabern für Araber verfasste” Bericht zeigte deutlichen Einfluss auf das regionale Entwicklungsnarrativ und auf die Art und Weise, wie nationale Eliten über die Probleme in ihren Gesellschaften sprachen.

In der Zeit der Veröffentlichung des ersten Berichts hatte man in der arabischen Welt Grund zu Optimismus. Israel, das sich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurückgezogen hatte, zog 2005 auch aus Gaza ab. Neue arabische Staatschefs – wie Abdullah II. in Jordanien, Mohammed VI. in Marokko und Baschar al-Assad in Syrien – übernahmen ihre Ämter und sorgten für Hoffnungen auf einen Wandel. Saudi Arabien kündigte 2003 die ersten Kommunalwahlen an, die 2005 auch tatsächlich abgehalten wurden. Und Algeriens Bemühungen, die langjährigen Unruhen im Land niederzuschlagen, gestalteten sich, teilweise aufgrund des in diesem Zeitraum durchgehend hohen Ölpreises, größtenteils erfolgreich.

Nach dem Arabischen Frühling, der im Dezember 2010 seinen Anfang nahm und 2011 an Dynamik zulegte, begann das UNDP mit dem Bericht für 2015, der sich speziell den Nöten der arabischen Jugend widmete. Neben 30 Intellektuellen und Aktivisten aus der arabischen Welt zählte ich ebenfalls zu den Mitgliedern des Verfasserteams für diesen Entwicklungsbericht 2015. Darin brachte man ähnliche Themen zur Sprache wie im Vorläuferbericht des Jahres 2002, wobei wir uns diesmal allerdings direkter mit der einflussreichen arabischen Jugend auseinandersetzten, um die bestmöglichen Daten zu sammeln und das Augenmerk auf die Auswirkungen der Kriege in der Region zu lenken.

Der Bericht des Jahres 2015 wurde im Mai 2015 fertiggestellt. Seit damals allerdings schlummert er in den Schubladen des Arabischen UNDP-Büros in New York, wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund der darin enthaltenen harschen Beurteilung der arabischen Macht-Eliten.

Eine Erkenntnis dieses Berichts aus dem Jahr 2015, über die ich mich direkt äußern kann, besteht darin, dass sich in der arabischen Welt, insbesondere unter jungen Menschen, eine „schweigende Mehrheit“ mit liberalerer Geisteshaltung gebildet hat. Dieser vielversprechende Trend wird auch in internationalen Meinungsumfragen bei Vergleichen zwischen den Generationen deutlich. Die arabischen Jugendlichen verfügen über einen besseren Zugang zu Informationen über die Außenwelt als dies jemals zuvor der Fall war. Sie teilen nicht mehr die Werte ihrer Elterngeneration, sondern eignen sich die Werter anderer junger Menschen auf der Welt an. Insbesondere sehnt sich die arabische Jugend nach verstärkter Beteiligung an der Zivilgesellschaft, der Emanzipation von patriarchalen Hierarchien und mehr Freiraum für individuelle Kreativität. Aufgrund eines konservativen Lehrplans kam es zwar zu keiner Emanzipation des Bildungsbereichs in dem Ausmaß wie dies in der restlichen Welt der Fall war, aber die Jugend emanzipierte sich sehr wohl.

In Anbetracht dieser Erkenntnisse empfiehlt der Bericht 2015 fortschrittlichen Gruppen auf nationaler, regionaler und internationale Ebene, die Kräfte der Emanzipation zu unterstützen, die als Schlüssel zur Bewältigung von Herausforderungen im jeweiligen Land gelten. Insbesondere geht es darum, eine verbesserte Governance ebenso sicherzustellen, wie produktivere Ökonomien und widerstandsfähigere Gesellschaften. Die einzige Möglichkeit für einen weitreichenden Wandel in der arabischen Welt besteht darin, Innovation und Kreativität zu entfesseln – und dazu ist eine uneingeschränkte Zivilgesellschaft erforderlich. Es gilt, grundlegende Bürgerrechte einzuführen. Begleitet werden muss diese Entwicklung von tief greifenden Veränderungen des Bildungssystems, Reformen im Familienrecht und erweiterten Freiräumen für Medien und Kultur.

Der Bericht 2015, der hoffentlich bald veröffentlicht wird, sollte zu einem vernünftigen und konstruktiven regionalen Dialog ermutigen. Am Beginn des Berichts steht eine Warnung: „Aufgrund erstarrter politischen Machtstrukturen, die junge Menschen an den Rand drängen, fühlen sich diese zunehmend ernüchtert. Wenn die Regierungen diese unübersehbare Realität nicht erkennen, werden sie sich künftig mit mehr als einigen Extremisten auseinanderzusetzen haben.“

Die neue schweigende Mehrheit bildet die beste Verteidigung gegen die radikalen und selbstmörderischen Strömungen, die das aufgrund des Zusammenbruchs der alten Ordnung entstandene Vakuum füllen. Reformorientierte Araber müssen darauf abzielen, das Zentrum zu erweitern anstatt zu versuchen, die Ränder zu verbinden. Und die schweigende Mehrheit muss ihre Stimme erheben. Andernfalls werden Revolten gegen einen nicht hinnehmbaren Status quo weiterhin von Extremisten angeführt, die nur Groll, aber keine Zukunftshoffnung kennen.

Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends gestalteten sich vielversprechend für die arabische Welt und in der Jugend von heute sehen wir eine Erneuerung dieser Versprechen. Es gilt, die Reformer der arabischen Zivilgesellschaft zu ermutigen, nun ihre Stimme zu erheben. Andernfalls riskiert man, diese Versprechen für eine weitere Generation nicht einzulösen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier


Pays : 
- Maroc   
- Syrie   
- Irak   

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