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Date :  2016-04-27
Language :  German
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Lateinamerikas Moment ist gekommen


Verständlicherweise ist die weltweite Aufmerksamkeit im Moment hauptsächlich auf die Entwicklungen im Nahen Osten, in Europa und in Asien gerichtet. Diese Regionen repräsentieren die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und des Reichtums in der Welt, ihre Außenpolitik ist am kompliziertesten (und am folgenreichsten), und in den letzten Jahrzehnten – oder gar Jahrhunderten – fand dort der größte Teil dessen statt, was wir zur Weltgeschichte zählen.

Aber eine unbeabsichtigte Folge dieses Blickwinkels liegt darin, dass die Regierungen, Unternehmen und Menschen vieles von dem übersehen, was gerade in Lateinamerika geschieht. Und vieles davon kann nur als gut bezeichnet werden.

Auf den ersten Blick ist dies nicht offensichtlich. Brasilien, das größte Land der Region, befindet sich mitten in einer schweren politischen Krise. Während dort im Sommer die Olympischen Spiele stattfinden, könnte es geschehen, dass Dilma Rousseff, die momentane Präsidentin, von der Absetzung bedroht ist. 2015 ging die Wirtschaft im Land um fast 4% zurück, und dieses Jahr wird es wohl ebenso sein. Der Einfluss des Zika-Virus auf die öffentliche Gesundheit ist in Brasilien größer als in jedem anderen Land. Die Korruption greift um sich und hat fast den gesamten öffentlichen Dienst verseucht.

Aber außergewöhnlich ist, dass all dies bis jetzt keine Gewaltausbrüche zur Folge hatte. Ebenso ist entscheidend, dass der politische Prozess verfassungsgemäß und unter der Leitung unabhängig agierender Richter stattfindet. Die Ereignisse werden von Medien aller Art mit großem Eifer verfolgt. Die Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist für jedes Land von entscheidender Bedeutung, und dass diese in Brasilien funktioniert, könnte das Land vor den Fehlern und der Misswirtschaft der Vergangenheit schützen.

Und ja, Venezuela – ein Land mit dem Segen oder Fluch der größten Kohlenwasserstoffreserven der Welt – ist in einem viel schlimmerem Zustand. Mit dem Verfall der Ölpreise gingen auch die Wirtschaft und die Währung des Landes den Bach herunter. Die Inflation ist stark gestiegen. Die Politik des Landes hat versagt, und Bürgerproteste sowie ausufernde Gewalt können nicht ausgeschlossen werden.

Aber sogar hier gab es einige gute Nachrichten: Bei der Parlamentswahl vom Dezember 2015 hat die politische Opposition eine große Mehrheit erzielt. Und durch die niedrigeren Ölpreise könnten weitere politische Veränderungen ausgelöst werden, und es könnte endlich eine Regierung an die Macht kommen, die Venezuela zu einem Land mit Institutionen und Gesetzen macht und mit dem Personenkult und dem Machtmissbrauch der Vergangenheit bricht.

Allgemein betrachtet sind viele der wichtigsten Tendenzen in der Region alles in allem positiv zu bewerten. Mexiko ist nach Jahrzehnten als Einparteienstaat heute eine stabile Demokratie, in der über Wahlen bereits einige Veränderungen der politischen Führung bewirkt wurden. Außerdem geht es der Wirtschaft relativ gut. Natürlich gibt es auch Herausforderungen, insbesondere bei der Bekämpfung von Drogenkriminalität und Gewalt, aber diese Probleme können mit dauerhaften Bemühungen gelöst werden.

Kolumbien konnte sich endlich aus einem langwierigen Bürgerkrieg befreien. Mit Unterstützung der Vereinigten Staaten war die Regierung stark genug, den FARC-Rebellen des Landes zu zeigen, dass sie sich nicht an die Macht schießen können. Der Waffenstillstand hält an, und die Aussichten auf ein Friedensabkommen sind gut. Die Wirtschaft des Landes wächst jährlich um 3%, was weniger ist als in der jüngsten Vergangenheit, aber immer noch mehr als in vielen anderen Schwellenländern.

Die letzten guten Nachrichten kamen aus Argentinien. Die neue Regierung hat während der ersten sechs Monate ihrer Amtszeit einige schwierige Schritte unternommen, um das internationale Vertrauen zu reparieren. Dies verringert in keiner Weise das, was zur Reduzierung der Inflation und zur Wiederherstellung nachhaltigen Wachstums noch getan werden muss, aber es entsteht der starke Eindruck, dass das Land unter der momentanen Führung einiger talentierter Technokraten auf dem besten Weg ist.

Dies sind gute Nachrichten – und nicht nur für Argentinien, da die dortigen Entwicklungen auch das Denken und Verhalten an anderen Orten beeinflussen, insbesondere in Brasilien. Der Fortschritt in Argentinien würde zeigen, dass Gesetzesbrecher zur Verantwortung gezogen werden, dass übermäßige staatliche Einmischung in die Wirtschaft zu Insolvenz und wachsender Korruption führt, und dass der Demokratie und dem Markt die Zukunft gehören. Und auch Kuba wird in zehn Jahren wahrscheinlich eher seinen politisch und wirtschaftlich offenen Nachbarn ähneln als umgekehrt.

Wiederum soll all dies nicht bedeuten, dass es Lateinamerika an echten Problemen und Herausforderungen mangelt. Im Gegenteil, davon gibt es genügend. Aber größtenteils hängen diese mit Angelegenheiten politischer und wirtschaftlicher Führung, staatlicher Kapazitäten und der Korruption innerhalb der Länder zusammen. Es gibt in der Region kaum Probleme, die mit den Beziehungen der Staaten untereinander zu tun haben – also geopolitische Probleme, unter denen so viele Länder in anderen Teilen der Welt leiden. Dies ist ein enormer Vorteil, da es bedeutet, dass die Aufmerksamkeit und die Ressourcen auf die Bedürfnisse im Inland gerichtet werden können.

Der Nahe Osten ist in Auflösung begriffen. Asien wird von territorialen Konflikten, dem Aufstieg Chinas und einem waghalsigen Nordkorea heimgesucht. Europa wird von Flüchtlingen, Terroranschlägen und russischem Revanchismus überwältigt. Und Afrika wird von Bürgerkriegen, Terrorismus und schwachen Regierungen zurückgehalten.

In Lateinamerika hingegen sieht es ziemlich gut aus. Hält der aktuelle Trend an, könnte der Kontinent mit der Zeit tatsächlich Europa als die Weltregion ablösen, auf die die anderen mit Bewunderung schauen – oder gar mit etwas Neid.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff


Countries : 
- Brazil   
- Mexico   

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