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Date :  2015-08-24
langue :  Allemand
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Europa und seine Flüchtlinge


Europa war über viele Jahrhunderte hinweg ein Kontinent, geplagt von Kriegen, Hungersnöten und Armut. Millionen von Europäer wurden durch die blanke wirtschaftliche und soziale Not zur Auswanderung getrieben. Sie gingen über den Atlantik, nach Amerika, Süd und Nord und bis ins ferne Australien, nur um ihrer ererbten Not für sich und ihre Kinder zu entkommen.

„Wirtschaftsflüchtlinge“ allesamt, um diesen Begriff aus der aktuellen Einwanderungs- und Flüchtlingsdebatte zu verwenden. Im 20. Jahrhundert kamen als vorherrschende Fluchtursachen noch rassische Verfolgung, politische Unterdrückung und die Verheerungen von zwei Weltkriegen hinzu.

Heute ist die EU eine der reichsten Wirtschaftszonen auf unserem Globus, die große Mehrheit der Europäer lebt seit Jahrzehnten in Frieden in demokratischen Staaten mit garantierten Grundrechten und einer einmaligen sozialen Infrastruktur, die Erinnerung an die fernen Zeiten der eigenen Not scheint fast ausgelöscht zu sein– und so fühlt sich Europa ganz aktuell bedroht.

Nein, weniger durch Wladimir Putin und einem erneut auf seine Nachbarn aggressiv ausgreifenden Russland, sondern durch Flüchtlinge und Zuwanderer, durch die Ärmsten der Armen.

Im Mittelmeer ertranken in diesem Sommer wieder hunderte von Bootsflüchtlingen und zugleich werden in Europa die Rufe nach Abschottung, nach massenhaften Deportationen, nach dem Bau von neuen Zäunen gar im 26. Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer immer lauter! Überall in Europa reüssiert Fremdenfeindlichkeit bis hin zu offenem Rassismus und nationalistische, ja rechtsradikale Parteien feiern große Wahlerfolge.

Das reiche Europa erlebt im heißen Sommer 2015 den Beginn einer großen Flüchtlingskrise – Beginn deshalb, da die Fluchtursachen nicht so schnell verschwinden, sondern sich eher in Zukunft noch verstärken werden - und scheint dadurch politisch, moralisch und administrativ völlig überfordert zu sein.

Die administrative Überforderung ist besonders beschämend, da es sich bei der EU nicht nur um eine der reichsten Wirtschaftszonen der Welt handelt, sondern die Mehrheit ihrer Mitgliedstaaten über die größten und am besten ausgestatteten Sozialbürokratien weltweit verfügt!

Hinzu entsteht aus dieser Unfähigkeit noch ein erhebliches politisches Risiko für die EU. Denn kaum jemand glaubt ernsthaft daran, dass die einzelnen Mitgliedstaaten diese langanhaltende Herausforderung werden für sich allein bewältigen können, und dies gilt ganz gewiss noch mehr, wenn man Italien und Griechenland als die beiden hauptbetroffenen Staaten an der Mittelmeeraußengrenze der Gemeinschaft alleine lässt. Es bedarf einer gemeinsamen europäischen Anstrengung – die aber zugleich von vielen Mitgliedstaaten verweigert wird. Und damit droht sich der eh schon vorhandene Trend zur Desolidarisierung und Desintegration, ausgelöst durch die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2009, innerhalb der EU weiter zu verstärken und den Zusammenhalt der Gemeinschaft weiter zu gefährden.

Betrachtet man die Ursachen für die aktuelle Fluchtbewegungen in Richtung Europa näher, so werden drei unterschiedliche Ursachen sichtbar: erstens der westliche Balkan und seine anhaltende Wirtschaftsmisere; zweitens die Kriege und Bürgerkriege des Nahen und Mittleren Ostens; drittens Kriege, Bürgerkriege und eine anhaltende Wirtschaftsmisere in Afrika.

Es sind also schwere Krisen in der regionalen Nachbarschaft Europas, zu deren Lösung die EU wenig beitragen kann, da sie außenpolitisch darauf nicht vorbereitet ist. Dies gilt allerdings noch sehr viel mehr für ihre Mitgliedstaaten, sodass ein massives Handlungs- und daraus folgend ein Legitimitätsdefizit in der Bevölkerung droht, das durch einen nationalistischen, fremdenfeindlichen Populismus leicht ausgenutzt werden kann.

Sollte sich der Krieg im Osten der Ukraine wieder verschärfen oder gar ausdehnen, so käme mit Sicherheit im Osten Europas noch eine vierte Fluchtursache hinzu. Es spricht also vieles dafür, dass die EU ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unter Einschluss ihrer Nachbarschaftspolitik erheblich verstärken und deren Instrumente wesentlich verbessern müsste, um sich wirksamer um die Fluchtursachen kümmern zu können. Leider gibt es im Augenblick keine Anzeichen dafür.

Auf die Kriege und Konflikte Afrikas, wie auch auf die Kriege und Bürgerkriege des Nahen und Mittleren Ostens werden die Europäer angesichts ihrer außenpolitischen Schwäche nur einen geringen Einfluss haben, den man aber gleichwohl nutzen und ausbauen sollte.

Auf dem westlichen Balkan aber, ohne jeden Zweifel ein Teil von Europa und die Staaten dort sind alle entweder Beitrittskandidaten oder potentielle Bewerber mit einer europäischen Perspektive. Warum sich die EU bisher dort nicht sehr viel stärker engagiert hat, bleibt ein Geheimnis Brüssels und der Mitgliedstaaten, denn auf dem westlichen Balkan kann die EU den Unterschied ausmachen, vor allem durch die wesentlich bessere infrastrukturelle Anbindung der Region an die industriellen Zentren der Gemeinschaft und durch eine verstärkte wirtschaftliche und administrative Modernisierung. Zudem ist es absurd, dass Bürger von Beitrittskandidaten der EU in das Asylverfahren gedrängt werden, weil es für sie faktisch keine legale Einwanderungsmöglichkeit in die EU gibt.

Einen Sonderfall bilden die Roma, eine gerade in den westlichen Balkanstaaten stark präsente Minderheit, die unter mannigfaltigen Diskriminierungen zu leiden haben. Die Roma haben mit der Wende 1989 und in den Folgejahren besonders zu leiden gehabt, da sie oft in einfachen industriellen Beschäftigungsverhältnissen tätig waren, die mit der Wende zuerst abgewickelt wurden. So wurden viele Roma wieder in eine hoffnungslose Armut zurückgedrückt. Die Roma sind eine gesamteuropäische Herausforderung, da es sich bei ihnen zweifelsfrei um aktuelle oder kommende europäische Bürger handelt, deren anhaltende Diskriminierung einen europaweiten Skandal darstellt und um die sich deshalb Brüssel, gemeinsam mit den Mitglied- und Kandidatenstaaten, kümmern muss.

Die Flüchtlingskrise diesen Sommers beleuchtet noch ein sehr viel größeres strukturelles Problem Europas: die Demographie. Die Europäer werden älter und weniger und werden deshalb dringend Zuwanderung brauchen. Zugleich wehrt sich das alte Europa eben dagegen mit Händen und Füßen, weil Zuwanderung eben auch gesellschaftliche Veränderung bedeutet.

Auf Dauer wird die Politik ihren Bevölkerungen erklären müssen, dass es beides - hohe wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und hohe soziale Sicherheit und keine Zuwanderung - nicht geben kann, sondern dass es sich hier um eine historische entweder/oder Frage handelt, die entschieden werden muss. Um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Was wäre denn die Schweizer Fußballnationalmannschaft ohne die Kinder von Migranten. Eben!

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