Die von Kars Jaspers in diesem Werk (1) betriebene philosophische Anschauung ist eine spezifische philosophische Politik, die an einer besonderen Nahtstelle von mehreren einander in grossem Ausmass verwandten philosophisch-politischen Disziplinen ihren systematischen Ort hat. Sie ist keine gewöhnliche Beschreibung des Politischen, auch nicht gewöhnliche politische Theorie, aber auch nicht Politikwissenschaft in dem heute immer eindeutiger werdenden konsensuellen Sinne.
Die Relation zwischen Theorie und Praxis ist in jeglicher politischen Philosophie eine sehr bestimmte und bestimmende Dimension. Zu nah kann diese Entfernung nicht werden, weil dadurch die eigentümliche Identitaet der Theorie verloren geht. Zu weit entfernt kann sie aber auch nicht sein, weil eine zu abstrakte Beschreibung des Politischen das ursprüngliche Erkenntnisinteresse zunichte macht. In der philosophischen Politik von Karl Jaspers sieht es aber in dieser Hinsicht ganz anders aus. Hier herrscht eine ganz kontinuierlicher und sehr direkter Übergang zwischen Theorie (Prinzipien) und Praxis vor. Aus mehreren (auch wissenschaftstheoretischen) Gründen ist es die Mission gerade der philosophischen Politik, die geradlinige und bruchlose Geltung der Prinzipien in der politischen Praxis zu verfolgen und einen Mangel an derselben unverzüglich zu thematisieren (2). Diese Unmittelbarkeit hebt nicht die Differenz zwischen Theorie und Praxis auf, sie bildet aber wie spontan eine staendige Brücke zwischen ihnen, waehrend sie diese Attitüde auf einer offenen oder nur versteckt thematisierten normativen Weise vertritt.
Kein Zufall, dass die Relevanz einer so aufgefassten philosophischen Politik in Umbruchszeiten stets steigt. Die posttotalitaere Transformation ist eine Möglichkeit von historischen Umwaelzungen, solchen, in denen in wörtlichem Sinne das ganze politische System neu gedacht und neu aufgebaut werden soll. Dies eröffnet uns die Möglichkeit, Jaspers’, wie uns scheint, inkommensurable Analyse von der postnationalsozialistischen Transformation Deutschlands mit dem postkommunistischen Übergang Ost-Europas zu vergleichen, und zwar von einer zeitlichen Distanz heraus, die verhaeltnismaessig mit jener der Jaspers-Analyse zum Datum 1945 übereinstimmt.
Die einzelnen Erkenntnisse dieser philosophischen Politik werden vor dem Horizont von deren spezifischer Methodologie und sonstigen philosophischen Bestimmungen angeführt. Das kann auch nicht anders sein, weil diese beiden Seiten der philosophischen Politik in der bereits angeführten Unmittelbarkeit dieses Ansatzes nie voneinander erheblich zu trennen sind.
Jaspers thematisiert die Schwierigkeiten einer philosophischen Politik von einer vermeintlichen nur systematischen Sicht in unverkennbarer Klarheit: „Tendenzen zeigen, bedeutet nicht vorauszusagen. Die Faktoren des politischen Geschehens sind so zahlreich, ja, unendlich, die Zufaelle so unberechenbar, dass Prophetie heute wie von jeher irregeht. Sie trifft zwar Tendenzen; wie weit aber diese wirklich werden…, ist ungewiss und liegt noch an uns…” (3). Diese Aussage scheint bescheiden zu sein, auf der anderen Seite legitimieren aber gerade diese Bestimmungen des Politischen die philosophische Politik am nachdrücklichsten. Gerade beim Bestehen dieser Konditionen muss die philosophische Politik allgemeine, universale und holistische Behauptungen wagen, gerade so hat sie die Chance, mithilfe des spezifisch philosophischen Wissens die Leerstellen der positiven Forschung auszufüllen.
Philosophische Politik kann auf die verschiedensten Motivationen zurückgehen. Es ist nicht selten der Fall, dass sie auf eine philosophisch-moralische Verantwortung zurückgeführt werden kann, in Jaspers’ konkretem Fall auf seine moralisch zutiefst gefaerbte Skepsis angesichts des demokratischen Prozesses im posttotalitaeren Deutschland. Diese Einstellung liefert gleich unseren ersten komparativen Vergleich: Im postkommunistischen Ost-Europa war man vom Erfolg dieses Prozesses von Anfang an voll überzeugt, vielleicht deshalb kamen auch geringere Wellen einer Erneuerung der philosophischen Politik in dieser Region auf (4).
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Jaspers’ philosophische Auffassung vom Politischen auch in ihrem historischen Wandel zu untersuchen. Es besteht allerdings kein Zweifel darüber, dass er im Anfang der dreissiger Jahre noch nicht glaubte, Philosophie könnte ins Politische „hinübergeführt” werden, vor allem aus dem Grunde, weil er damals noch keine vollstaendige Kette der Vermittlungen auf diesem Feld identifizieren konnte. Der Konzept der philosophischen Politik verraet deutliche Züge dieser einstigen Überzeugung, an deren Modifizierung wir Hannah Arendts Inspiration deutlich zu erblicken meinen, die sich wie unaufhörlich mit Ansaetzen und Fragestellungen der aehnlich konzipierten philosophischen Politik auseinandersetzte (5).
Jaspers’ philosophische Politik waechst auch aus seiner politischen Marxismus-Kritik aus. Diese Philosophie erscheint in seiner paraphrasierenden Beschreibung als eine perfekt gewordene Gesamtdarstellung der Gesellschaft (denn "der einzelne Mensch scheint unbegreiflich, nicht aber die Gesellschaft" (6)) Karl Jaspers beschreibt den Marxismus als einen Bündel von Reduktionen. Sie kommen in den folgenden Gegenüberstellungen zur Geltung: (der Mensch - Resultat seiner Vergesellschaftung, Besonderheiten - Ergebnis des Ortes in der Gesellschaft des Menschen, Bewusstsein - Funktion der soziologischen Situation, etc.). Er erklaert diese Auffassung ferner schlichtweg als "Verstandesglaube" (7). Es faellt auf, dass er für die Unterstützung dieser Qualifizierung nicht die unmittelbare Falschheit dieser reduktiven Behauptungen ins Spiel bringt. Es geht Jaspers nicht direkt um das eventuelle Falschsein der Grundaussagen, vielmehr um den für ihn evidenten Reduktionismus. Nun entwickelt sich seine philosophische Politik ganz dezidiert gegen jeglichen Reduktionismus, sie beaehrt das Aura des Konkreten bis in solche Einzelheiten, wie die Kennedy-Nachahmung Willy Brandts oder die politische Persönlichkeit eines Ludwig Erhard.
Die philosophische Politik (auch bei Jaspers) untersucht also das Politische aus einer naeher liegenden Perspektíve als die gewöhnliche politische Theorie, diese Naehe und Unmittelbarkeit geht aber auch mit einem Paradox zusammen. Die philosophische Politik erscheint im Augenblick ihrer Artikulation vom politischen Leben gleichzeitig auch deutlich entfernt. Einerseits deshalb, weil sie auch noch in der konkretesten politischen Fragestellung am sichtbarsten im Philosophischen verbleibt, andererseits aber auch deshalb, weil sie eine konkrete politische Problematik plötzlich auf das Prinzipielle zurückbringt, was in dieser Direktheit nur ganz selten in die praktische Diskussion aufgenommen werden kann.
Das politische Denken hat seine eigene Entfaltung in der von uns ersichtlichen Geschichte. Philosophische Politik erscheint auf einem verhaeltnismaessig hohen Niveau der politischen Theorie, sozusagen als Produkt der immer weiter fortschreitenden Differenzierung. Damit geht zusammen, dass die philosophische Politik nicht nur eine gegebene politische Praxis, sondern auch Einsichten und Überzeugungen von herrschenden politischen Theorien in Frage ziehen kann. Philosophische Politik nimmt eine paradoxal anmutende Position zur politischen Praxis zwischen Naehe und Entfernung ein. Mit der Zeit kann sie sich aber aendern; Initiativen der philosophischen Politik können zum Gemeingut nicht nur des politischen Lebens, sondern auch des politischen Allgemeinbewusstseins werden. Das bewahrheitet sich praktisch auch am gesamten gedanklichen Material von Jaspers’ philosophischer Politik (8).
Jaspers’ philosophische Politik geniesst von Anfang an eine Extraterritorialitaet des Prinzipiellen. Sie selber ist der gewöhnlichen politischen Konkurrenz nicht unterworfen und kann den Weg der staendigen Verfolgung des Prinzipiellen in der politischen Praxis ungestört verfolgen. Er kann sich beispielsweise in Wohin treibt die Bundesrepublik? erlauben, auf die genau vermittelte Gefahr eines Kommunismus aufmerksam machen (auf der gedanklichen Linie, dass der romantische Egoismus der einzelnen europaeischen Nationalstaaten unter anderen auch eine Gefahr von seiten der Sowjetunion heraufbeschwören kann), waehrend er zur selben Zeit aus den tiefsten moralischen und intellektuellen Gründen gegen das „Notstandsgesetz” aufs Feld zieht, wo kommunistische Parteimitglieder öffentlich benachteiligt werden (9). An dieser Stelle muss aktualisierend auch gesagt werden, dass die ganze Entwicklung der Europaeischen Union nach 1989 gerade an Prinzipien und Grundsaetzen nicht das erwünschte Mass erreichte. Es gab also keinen neuen Karl Jaspers der Europaeischen Union nach 1989 (10).
Das posttotalitaere Phaenomen teilt dem Politischen eine zweifache Daseinsform zu. Die historische Situation diktiert für sie die Notwendigkeit, ein politisches Optimum oder zumindest eine politische „Normalitaet” wiederherzustellen, waehrend die einzelnen Akteure schon zur Zeit der Wiederherstellung dieses Optimums für ihre eigenen partikulaeren politischen Zwecke kaempfen (müssen/wollen). So müssten die Akteure der Politik gleichzeitig zwei Arten der politischen Aktivitaet ausführen. Zur selben Zeit sollen sie „universalistisch’” für die ganze posttotalitaere Gesellschaft optimale politische Umgangsformen herstellen und, parallel damit, sollen sie einen politischen Parkett aufbauen, auf welchem die einzelnen Akteure schon ungestört ihren „partikulaeren” Interessen nachgehen können. Kein Zweifel, dass selbst diese spezifische Aufgabenzuteilung dem Aufkommen einer philosophischen Politik günstig ist (11).
Karl Jaspers realisiert aber auch eine weitere Forderung der philosophischen Politik. Zur Elastizitaet dieser Denkweise gehört es naemlich auch, dass sich die Reflexion, aber auch die Kritik nicht einzig auf den Totalitarismus, sondern auch die aktuelle demokratische Einrichtung richtet, mit anderen Worten, die philosophische Politik ist eine der wichtigsten Quellen der demokratisch orientierten Kritik an der demokratischen Einrichtung selber. Es liegt auf der Hand, dass das Zentrum dieser Kritik an der realen Demokratie am engsten mit der posttotalitaeren Situation, sowie mit der Notwendigkeit zusammenhaengt, ein politisches Optimum auch in demokratietheoretischer Sicht auf die Beine zu verhelfen. Hierbei meldet sich aber auch jenes auch im Postkommunismus wohl bekannte Phaenomen, dass eine so ausgeübte Kritik manchmal den höchsten Mut des Kritikers erfordert, denn er laeuft von Anfang an Gefahr, dass seine Kritik an der neuen Demokratie mit den Vorwürfen derselben zusammenfaellt, die ihrerseits prinzipiell gegen demokratische Einrichtungen auftreten. Der Vergleich zeigt sofort, dass Jaspers in diesem Bezug weniger diesen Gefahren ausgesetzt war als so viele Vertreter der ost-europaeischen postkommunistischen Transformation (12).
Karl Jaspers’ philosophische Politik erweist sich auch in jener Hinsicht als erfolgreich, dass ihre hohe Moralitaet weitgehend gesehen und anerkannt ist. Er wird zu einem moralischen Leitbild der frühen Bundesrepublik, wird oft als Richter in prinzipiellen Auseinandersetzungen angefragt, kommt als Praesident der Republik in Frage und aeussert sich in spezifisch sittlich gefaerbten Sinn- und Gesinnungsfragen (wie zu Hochhuths Thematisierung der deutschen Geschichte) regelmaessig
Karl Jaspers betont auch in der Situation der posttotalitaeren Demokratie gewisse anthropologische Züge, die in der sozialen Ontologie für die Reflexion unumgaenglich sind. Diese Eigenschaften spielen selbstverstaendlich auch in den Totalitarismen eine Rolle, bleiben aber auch in der Demokratie bestimmend, sie bilden das wahre Fundament des Politischen bei Jaspers. Dieses Fundament lautet bei ihm so: „Die Menschen…wollen ihre Behaglichkeit. Dass etwas in den Fundamenten des Staates nicht in Ordnung sein sollte, ist ihnen ein fremder Gedanke der subversiven Kritiker, der ’Negatíven’ (13). Politik ist also eine staendige Praxis der Aktivitaet, die mit dieser Grundeigenschaft der Behaglichkeit stets Rechnung tragen muss. Sie markiert auch, dass bei Jaspers in der Politik der Einzelne, das Volk stets zu den wichtigsten Akteuren gehören, die Politik geht durch Menschen, die als Menschen in allen ihren Eigenschaften wahrgenommen und respektiert werden müssen. Die Politik darf den Menschen nicht (mit Vorliebe etwa als Stimmenmaximierung) reduzieren oder anderswie missbrauchen. Jaspers nimmt es wörtlich: „Dieses Grundgesetz wurde vom Volk, das es nicht kannte, weder diskutiert, noch beschlossen, sondern nur durch das Parlament bestaetigt” (14).
Die Forderung (oder mit Fichte zu sprechen: „die Zurückforderung”) des Respekts des Individuums und des Volkes auch in der modernen Demokratie ist ein immer wieder zurückkehrendes Refrain in Karl Jaspers’ philosophischer Politik (15). An diesem Punkt wird es sichtbar, dass Karl Jaspers’ philosophische Politik gravierend eine Richtung annimmt, die sich gegen Carl Schmitt’s politische Metaphysik gerichtet, einen diesbezüglich andere Analyse könnte auch eine Parallele zu Martin Heidegger ausbauen, in der nach der Stellung des Philosophen in der Politik gefragt werden kann.
Karl Jaspers vertritt in seiner philosophischen Politik eine stets auch persönlich gefaerbte Attitüde. Seine persönlichen und theoretischen Ansichten trennen sich voneinander nicht, beiden bilden zusammen jenen Wissensvorrat, der sich in den einzelnen Ausführungen zum Ausdruck kommt. Und das ist gleichzeitig auch ein spezifischer Zug der philosophischen Politik. Die philosophische Politik ist viel eher eine reflexive Meinungsbildung als etwa das analytische und kommunikative Aufweisen jenes Wissensvorrates, aus welchem heraus diese Meinungsbildung erfolgt. Auch Jaspers ist in dieser Hinsicht ein verkündender Philosoph, der aus dem „nirgends greifbaren Ganzen des Wahrseins im Menschsein” heraus redet. Von hier aus gesehen wird es auch wieder von einer neuen Seite ersichtlich, warum philosophische Politik und posttotalitaere Transformation(en) zusammen gehören, denn die posttotalitaere Demokratie ist im ganzen ein beispiel- und praezendenzloses Phaenomen (16) von welthistorischem Format, dessen erste Kategorisierung geradezu nach dem Ansatz der philosophischen Politik schreit.
Die posttotalitaere Situation ist für jede betroffene Gesellschaft eine einmalige Ausgangslage. Sie ist in jedem Fall eine durch und durch philosophische Situation, auf welche sich die folgenden Worte des Philosophen durchaus zustimmen: „…Maenner und Frauen…(sind) gewillt…, nach dem Fürchterlichen, was sie angerichtet haben oder was sie geschuldet haben, wirklich ein neues Staatswesen zu gründen…” (17). Bereits in diesem Augenblick kommt der schon erwaehnte führende Zug der posttotalitaeren Demokratie zur Geltung: Was angestrebt werden muss, kann nur ein politisches Optimum sein, darauf sind sie verpflichtet, ein geringeres Ziel würde vielleicht auch noch die residualen Gefahren eines neuen Totalitarismus auf den Plan rufen. Hierbei muss man die beiden, qualitativ unterschiedlichen Zielen dieser Demokratie verwirklichen:Funktionierende Strukturen einer (universalistischen) Demokratie aufzubauen und das demokratische Feld für die (partikulaeren) politischen Auseinandersetzungen herbeizuführen (18). Der Maximalismus dieser Zielsetzung ist in der Situation selbst verankert. Die allmaechtige Einsicht in diese einmalige Lage macht Jaspers zu einer Bezugsfigur der neuen Demokratie (selbstverstaendlich waere es eine andere Aufgabe, seine diesbezügliche Rolle mit anderen Gründungsfiguren des neuen Staates ausführlich zu vergleichen).
Wie bei der postkommunistischen Transformation, erscheint auch bei Karl Jaspers das theoretische Bild der früheren Geschichte des Landes und Europas. Momente einer struktur-typologischen Vision werden sichtbar, die im postkommunistischen Fall nach dem gleichen Mechanismus darauf abzielen, wie dieser Totalitarismus überhaupt möglich war, dessen Ausgang die unmittelbare Gegenwart ausmacht. Jaspers – ohne auf irgendwelche Vollstaendigkeit zielen zu können – geht auf Max Webers Wilhelminismus-Kritik zurück, in der die gerade damals neu zu erschaffende Relation von dem neuen Deutschland und Europa als zentrales Moment hervorgehoben wird. Mutatis mutandis lief diese struktur-typologisch angehauchte Europa-Diskussion auch in den postkommunistischen Staaten durch (gestaerkt freilich durch die aktuelle EU-Problematik), wobei merkwürdigerweise – und das ist ein Lob Jaspers’ – man im postkommunistischen Ost-Europa über die im wesentlichen nicht diskutable Europazugehörigkeit der einzelnen Staaten viel früher einig war wie es bei Jaspers in seiner kritischen Sicht der deutschen Geschichte der Fall gewesen ist. Dass Europa in beiden Faellen zur gleichen Zeit einen realpolitischen und einen moralisch-philosophischen normativen Sinn hatte, unterstreicht jetzt von einer neuen Seite die Relevanz philosophischen Politisierens.
Die posttotalitaere Situation ist ein philosophischer Neuanfang auch in dem Sinne, dass Totalitarismus ein Zwangssystem darstellte. Jaspers formuliert es so, die „neue” Ordnung muss kommen, denn bisher herrschte eine „eine aeussere Ordnung der Institutionen”, die nicht der inneren Ordnung der Bürger entsprach (19). Dies ist selbstverstaendlich nicht gerade intellektuell eine neue Einsicht, sie ist aber aeusserst wichtig für das Verstehen der einmaligen Forderungen, die an eine posttotalitaere Demokratie wie evident gestellt werden. Denn in diesem System muss alles richtig sein und alles auf eine richtige Weise ausgeführt werden, denn jeder hier begangene Fehler und Mangel schwört Gefahren und Bedrohungen unmittelbar auf. So versteht man allein Jaspers’ staendige politische Angst um die Zukunft der deutschen Demokratie, waehrend er (in typisch philosophiepolitischer Manier) gleichzeitig auch darüber als über eine Gefahr redet, dass es „in Deutschland nichts passieren kann”(20). Diese Dualitaet begleitet seine ganze Analyse, es bereitet spaeter auch Hannah Arendt deutliche Probleme, die „Problemlosigkeit” und die gleichzeitige staendige „Bedrohtheit” der deutschen Demokratie den amerikanischen Lesern plausibel zu machen (21). Diese doppelte Sprache ist aber alles andere als unverstaendlich, die postkommunistische Demokratie ist jedenfalls voll davon. Wer würde beispielsweise eine postkommunistische Demokratie pauschal als gefaehrdet bezeichnen, weil der neue Status der ehemaligen Mitarbeiter der Geheimdienste nicht beruhigend gelöst ist. Wer würde aber eine postkommunistische Demokratie pauschal als nicht gefaehrdet bezeichnen, wenn der neue Status der ehemaligen Mitarbeiter der Geheimdienste nicht beruhigend gelöst ist Wir müssen an diesem Beispiel klar ersehen, dass beide Aussagen wahr sind.
Jaspers weiss es ganz genau, dass allgemeine Einsichten der philosophischen Politik in der posttotalitaeren Situation noch vollkommener eingehalten und gelten müssen als es in den gewöhnlichen Demokratien der Fall ist. Jaspers folgende Erkenntnis gilt für alle Demokratien (man würde gerne hinzufügen: auch für alle normale menschliche Gemeinwesen): „Die Struktur des Staates hat daher zwei Seiten: einerseits das institutionell Festgelegte und die Gesetze, andererseits das, was mit ihnen und durch sie geschieht auf Grund der Motive der Menschen, denen sie entsprungen sind.” (22) Denkt man über diese Aussage im Kontext der posttotalitaeren Seinsweise nach, so faellt es auf, welchen Stellenwert diese Aussage in einem mehr oder weniger harmonischen posttotalitaeren Aufbau aufweist. Denn selbst in der Demokratie und eben in der posttotalitaeren Demokratie gelten die einwandfreien Institutionen nur als die eine Haelfte der erfolgreichen Politik, die andere Haelfte des Erfolges sollte aus den wahren Motiven der Menschen im obigen Sinne kommen. Die bisherige Geschichte der postkommunistischen Demokratie zeigt ein gaehnendes Defizit in diesem Zusammenhang, der in manchen Faellen schon bis heute zu deutlichen Entfremdungsphaenomenen von den neuen Einrichtungen geführt hatte.
Ein optimaler demokratischer Neuanfang waere einer, in welchem die klassische Parteipolitik nicht gleich das politische Feld bestimmt. Die mehrfach heraufbeschwörte spezifische verdoppelte Forderung an das postkommunistische politische System laesst sich auch in diesem Zusammenhang unschwer erblicken. In einem solchen Systemwechsel existiert kein historisches Vakuum, in welchem man die Grundlagen einer neuen Demokratie auf optimale Weise legen kann, auf welchen Grundlagen dann nachher die neuen Prozesse optimal in Schwung kommen könnten. Jaspers sieht es durchaus richtig, dass die Parteipolitik (in ihren elementaren Formen, aber auch in den immer sophistizierteren Spielarten, wie in der Koalitionsbildung, ganz bis hinauf zur von ihm viel diskutierten Problematik der Grossen Koalition) sehr schnell ihre eigenen Sphaeren ausbaut und das in vielem nicht günstig auf eine spezifisch neue Demokratie hinauswirkt. Was für das Parteipolitische allgemein gilt, gilt auch für einzelne Parteien. Der Wille der Parteien, so schnell wie möglich in den Besitz der politischen Macht zu kommen,. lenkt die Aufmerksamkeit von ihren historischen Aufgaben ab. Besonders ausführlich und differenziert setzt sich Jaspers mit dieser Problematik im Falle der SPD zusammen, indem er dieser Partei eine eigene historische Mission zuteilt und (wie uns scheint) damit eine historische Periode antizipiert, in welcher die Sozialdemokratie eine zentrale politische Rolle ausfüllen sollte (23). Waehrend wir selbstverstaendlich mit Jaspers in dieser Fragestellung (die Parteienrivalitaet unterordnet sich alle prinzipiellen Momente der Transformation und verwandelt universale in partikulare Probleme) voll übereinstimmen, erinnern wir an die regelmaessig wiederkehrenden ersten Stunden der postkommunistischen Demokratien, in denen einzig und allein die Parteien die Institutionen waren, die das volle Vertrauen der demokratischen Öffentlichkeit allgemein genossen haben. In diesem historischen und politischen Kontext schlug die Oligarchisierung der postkommunistischen Parteistruktur in (historisch gesehen) wenigen Augenblicken durch und die von Jaspers anvisierte Tendenz der Oligarchisierung wurde Wirklichkeit, die aktuelle Macht nimmt dann den Sinn laengerer historischer Vorbereitungen (24).
Eng mit der zweifachen Forderung an die posttotalitaere Demokratie haengt auch die Problematik der Konsensbildung zusammen. Von heute aus gesehen, faellt auf, dass dieses Moment für Jaspers keine entscheidende Rolle gespielt hat. Jaspers ist sich der Unterschiede zwischen der Gesinnung der einzelnen Parteien, sogar unter den einzelnen politischen Persönlichkeiten voll bewusst, in klarer Form denkt er aber nie daran, dass eine eventuell mangelnde Konsensbildung eine Gefahr für die kommende Demokratie heraufbeschwören könnte. Die Harmonie zwischen den Regierenden und dem Volk haelt er letztlich für wesentlicher als die Maengel in der Konsensbildung der politischen Eliten. Uns scheint, er hat die damalige posttotalitaere Demokratie richtig eingeschaetzt. Diese Konsensprobleme konnten in der Tat die Entfaltung der posttotalitaeren Demokratie in Deutschland nicht gefaehrden und konnten auch nicht zum organischen Bestandteil der spaeteren politischen Strukturen werden. Ganz das Gegenteil ereignete sich im postkommunistischen Ost-Europa! Hier führte die mangelnde Konsensbildung (deren Gründe selbstverstaendlich auf die unterschiedlichsten einzelnen Komponenten zurückgeführt werden können) zur oft permanent werdenden politischen Krise, wenn nicht gar zu der manifesten Spaltung eines Landes (25).
Ein stets sich wiederholender (mit der Konsensbildung auch zusammenhaengender) Gedanke in Karl Jaspers’ philosophischer Politik ist, dass Prinzipien und Grundrechte ernst genommen werden können. Dass eine neue, posttotalitaere Republik es wegen der posttotalitaeren Situation so tun muss, glauben wir vielleicht schon ausreichend betont zu haben. Was Jaspers in diesem Zusammenhang wieder gelingt, ist, dass die Verallgemeinerung und die (spaeter in der Literatur tatsaechlich erfolgte) Ausarbeitung seiner Idee zu einem philosophischen Bestandteil der Interpretation des Politischen wird. Die philosophische Politik misst naemlich Demokratie nicht ausschliesslich zu Diktaturen und stellt nicht in jedem Fall triumphal fest, dass die Demokratie einwandfrei ist, wenn gerade kein Diktator die Szene beherrscht. Es ist ohne jeglichen Zweifel ein jede Demokratie qualifizierender Grundzug, wie Grundprinzipien eingehalten werden. In einer etwas modernisierten Terminologie ausgedrückt, kann es als der Unterschied zwischen „geschriebenen” und „ungeschriebenen” Verfassung (Demokratie) oder als Differenz zwischen „sichtbarer” und „unsichtbarer” Verfassung genannt werden (26). Die Verletzung der unsichtbaren oder ungeschriebenen Regeln in der posttotalitaeren Demokratie schafft Zweideutigkeiten, die für die posttotalitaere Demokratie mit gerade denselben desorientierenden, wenn nicht gerade chaotisierenden Konsequenzen zusammen gehen, die Jaspers in so grosser Anzahl für Deutschland diagnostiziert hat. Die nunmehr von der Demokratie getragenen und dadurch von ihr legitimierten Zweideutigkeiten und die so legitimierte verdoppelte Sprache führt wieder eine Kultur der Lügen ein, die ja für eine posttotalitaere Gesellschaft direkt demoralisierend auswirken kann, welche Demoralisierung ihrerseits dann dem weiteren Entfaltungsprozess derselben posttotalitaeren Demokratie mit den denkbar negativsten Konsequenzen zusammengeht. Unter einem anderen Aspekt dürfte man denselben Tatbestand so formulieren, dass das Nichteinhalten demokratischer Grundprinzipien in einer posttotalitaeren Demokratie die neue Einrichtung, sowie die neuen Eliten einfach kompromittiert, in den leichteren Faellen erfolgt es als Selbstverleugnung der demokratischen Prinzipien, in schwierigeren Faellen als ungewollte Erinnerung an die Diktatur selber (27) Vollzieht man diesen Gedankengang ganz (und reflektiert man dazu die lange Liste der qualifizierten Faelle von nicht demokratisch legitimierten Verhaltensweisen von demokratisch legitimierten politischen Akteuren), so muss man Karl Jaspers in grösstem Masse recht geben: „Der heutige, unheilstraechtige (!) Zustand wird gefördert dadurch, dass man die Grundrechte nicht immer ernst nimmt” (28).
Jaspers sieht das Problem einer „Zufallselite”, die als Ergebnis einer schnellen und unvorbereiteten Transformation entstehen kann (29), er sieht aber auch, dass das Volk, die Gesellschaft in der Transformationsdemokratie auch ein selbstaendiger und virtuell durchaus existierender Akteur ist,. dessen Einbeziehung in die Transformation die wichtigste Garantie einer kreativen neuen Demokratie ist (30). An dieser Stelle bringt Jaspers wieder eine reiche und differenzierte Vision der Demokratie zum Ausdruck, indem Demokratie nicht nur eine repraesentative politische Einrichtungsform, sondern vielmehr auch – positiv definiert – Ausdruck von Motiven der Einzelnen und des Volkes ist, wie Jaspers es formuliert: „Denn die Potenz zur Einsicht ist im Volk ebenso gross oder grösser als die Bereitschaft, einer Regierung zu folgen” (31).
Würde man heute denken, die politische Angst Jaspers’ überstieg die sich als wirklich erweisenden Gefahren und Bedrohungen, so missversteht man ihn stark. Diese Aengste artikulierten sich im wesentlichen (auch wenn nicht ausschliesslich) nicht durch eine direkte Erwartung von einem neuen Totalitarismus, sie artikuierten sich für eine qualitative und ihrem wahren Begriff entsprechende Demokratie, deren einziges Kriterium schon nicht mehr die Abwesenheit einer manifesten Diktatur gewesen sein sollte. Der Bruch mit der Vergangenheit ist kein Normalproblem der politischen Praxis oder der politischen Theorie. Er ist nicht nur eine beispiel- und praezedenzlose Aufgabe, er ist im wesentlichen ein historisches Kunstwerk.
Alles erweckt mit Notwendigkeit Angst, was diesem Kunstwerk Schaden zufügen kann. Dieses politische Kunstwerk würde wirkliche politische Kunst fordern, die Jaspers manchmal fast konkret empfiehlt. Der gegebene historische Augenblick muss für die kreative historische Tat ausgenützt werden, man muss ja die Geschichte korrigieren, das politische Optimum erzielen und in den konkreten Angelegenheiten die besten Gleichgewichte herstellen. Und all das muss im klaren Bewusstsein einer welthistorischen Perspektíve und mit der welthistorischen Verantwortung geschehen. Im Übergang wird die wirkliche Geschichte, mehr noch, die wirkliche Alltagspolitik zum Philosophicum!
Alles erweckt mit Notwendigkeit Angst, was diesem Kunstwerk Schaden zufügen kann. Hierbei eröffnen sich die spezifischen Gleichgewichtsprobleme der posttotalitaeren Demokratie, die auch bei Jaspers in grosser Anzahl vorkommen. Die neue Demokratie muss ihr Mass bei der Lösung aller Fragen finden. Alles kann gut oder schlecht gemacht werden. Der an sich normale Akt der Bildung einer Grossen Koalition kann optimal sein, sie kann aber auch als „eine Art von Zwei-Parteien-Diktatur” interpretiert werden, in beiden Faellen kann das Urteil richtig sein. Die Opposition kann im Parlament kontraproduktiv, der Mangel an einer Opposition von hohem Niveau aber vielleicht eine noch grössere Gefahr sein. Wie angedeutet, existiert kein Hiatus in der Geschichte, man kann den Fluss der Geschichte nicht zum Stehen bringen, nur das geniale Handeln kann die Qualitaet der Demokratie sichern. Man muss alten, vor-totalitaeren Politikern den Raum wieder eröffnen, was verhindert aber dann die Restauration jener vortotalitaeren Zeit, die ja so fehlerlos in der Geschichte schon deshalb nicht gewesen sein konnte, weil eben der Totalitarismus siegen konnte.?
Gerade weil das Politische bei Jaspers durch den Einzelnen und das Volk existiert, faellt Jaspers der Oktroy-Charakter der posttotalitaeren Demokratie so schlagend auf (dass das selbe Problem im postkommunistischen Übergang ebenso wichtig ist, versteht sich von selber). Das Ausserordentliche und das Widersprüchliche liegt hierbei auf der Hand: Eine oktroyierte Demokratie ist ein lebendiger Widerspruch, deren Inkubation die Faehigkeit verlangt, stets die feinsten politischen Gleichgewichte aufstellen zu können.
Bei Karl Jaspers erscheint aber auch die aeussere, internationale Seite einer posttotalitaeren Transformation deutlich, denn Totalitarismus im zwanzigsten Jahrhundert ist stets auch eine internationale Positionierung. Praktisch sind beide posttotalitaeren Demokratien Gebilde, die ihre Rolle und ihren Stellenwert in Europa zurückgewinnen wollen. Bei Jaspers erscheint auch diese Dimension des Posttotalitarismus als Gegenstand philosophischer Politik. Die neue internationale Orientierung wird auch auf ihren Sinn und ihren Essentialismus hin konzipiert. In der Tat ersetzt dieses Moment der Reintegrierung in Europa die ganze übliche aussenpolitische Seite dieses Prozesses. Jaspers deutet sehr entschlossen an, auch diese Seite des Posttotalitarismus zeige die selben qualitatíven Forderungen auf, die bei manchen anderen Problembereichen der posttotalitaeren Politik formuliert werden. Selbst die EU-Integration muss spezifische posttotalitaere Motive und Gesinnungen haben, wie Jaspers es an einer Stelle ausdrückt: „Wie alle europaeischen Staaten kann die BRD politisch nur dann Selbstbewusstsein und Würde haben, wenn sie als mitwirkendes Mitglied im Kreise der freien Staaten zur gemeinsamen Selbstbehauptung handelt”(32). Liest man den Kern dieser Aussage noch einmal („mitwirkendes Mitglied der freien Staaten zur gemeinsamen Selbstbehauptung”), so wird man feststellen müssen, dass hinter jedem Substantiv, das Sachverhalte referiert, mehr oder weniger sichtbare Wertmotíve aufscheinen. Es ist ja gerade die philosophische Politik, die diese beiden Perspektiven (Sachverhalte referieren, Werte verwirklichen) miteinander vereinigt. Und damit landen wir schon bei einer grundsaetzlichen Eigenschaft jeglicher posttotalitaerer Demokratie: In ihrem Kreis muss jedes gegenstaendliches oder sonst wie pragmatisches Moment Werte tragen, sich harmonisch in den Prozess der Verwirklichung von Werten einfügen. Auch in der naechsten Aussage tragen alle Sachmomente ihren historisch aufgenommenen, wenn man will, mehrmals erlittenen Wertcharakter: „Das grosse Ganze des Abendlandes, in das sie (die Bundesrepublik – E.K.) sich mit hellem Bewusstsein eingliedert, gibt ihr ihren Sinn” (33). Gerade dieses gesteigerte Bedürfnis nach Sinn (was ja auch in Jaspers’ Satz explizit wird) und Essentialitaet gilt als die Grundbefindlichkeit posttotalitaeren Politisierens. Die Essenz wird zur Wirklichkeit, Europa gibt Sinn, deshalb soll man es waehlen, Europa, der grosse Sinn, erinnert wieder an die philosophische Politik Nietzsches (34), und zwar der politischen Logik nach ganz aehnlich, Europa ist als Sinn das Optimum für mehrere einander stets ruinös bekaempfenden Nationalstaaten. Der „Sinn” Europas, der anfangs als ein „nur” moralisches, weil aus dem Posttotalitarismus herauswachsendes Moment des Wertedefizits erschien, erweist sich am Ende dieses Gedankenganges auch als das politische, d.h.auch als das pragmatische Optimum, ein sinngebendes Europa wird also am Ende zu einem realistischen Ansatz, wie es übrigens auch bei Nietzsche der Fall war. In diesem Zusammenhang wird es genügend ersichtlich, wie zutiefst problematisch ein auf Sinnformulierung und Sinngebung blind marktorientiertes Europa auf den postkommunistischen Transformationsprozess der ost-europaeischen Staaten auswirkte und wie schockierend für diese Bevölkerung ein Europa auswirken musste, die die von ihnen gestellten Sinnfragen des öfteren als Naivitaet abstempelte…
In ihrer Ansprache anlaesslich der öffentlichen Gedenkfeier der Universitaet Basel (4. Maerz 1969) entwirft Hannah Arendt ein Bild Karl Jaspers', welches mit der intellektuellen Essenz der philosophischen Politik voll Rechnung traegt: "Es hat seit Plato nicht viele Philosophen gegeben, für die das Handeln und die Politik eine ernste Versuchung waren. Aber Jaspers? Er haette mit Kant sagen können, ’es ist so süss, sich Staatsverfassungen auszudenken’, und waere er nicht in einem Lande geboren worden, das seine grossen politischen Begabungen auf eine geheimnisvolle Weise ruiniert oder nicht zum Zuge kommen laesst, und waere er nicht krank gewesen - man haette ihn sich gut als Staatsmann vorstellen können. Und in gewissem Sinne ist diese Grundbegabung, gleich stark wie die philosophische, in ihm nach 1945 doch noch zu ihrem Recht gekommen"(35).
Fussnoten :
(1) Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen München 1966
(2)Die philosophische Politik betrachtet das ganze Feld des Politischen ausschliesslich nur durch das Medium des Sinnes, bzw. der Sinngebung. Dieser Zusammenhang wird in vielen Versionen in unserem Versuch thematisch. Die nahe Relation zwischen philosophischer Politik und posttotalitaerer Transformation ergibt sich also primaer aus dem gesteigerten Bedürfnis posttotalitaerer Gesellschaften.
(3) Wohin treibt die Bundesrepublik? S. 27
(4) Eine historische Tatsache ist, dass die öffentliche Sprachregelung es in den ersten Transitionsjahren es geradezu verboten hat, Skepsis wegen des erfolgreichen Ausganges dieses Prozesses zu aeussern. Aus diesem Grunde artikulierte kritische oder negative Einstellungen nur politische Gruppiereungen, die populistisch waren oder sonst nicht zum mainstream gehört haben. Weil aber ihre politische Position illegitim war, erschienen kritische Meinungen über den gewissen positiven Ausgang dieses Prozesse auch illegitim.
(5) S. darüber vom Verf dieser Zeilen: Das Gespraech über die Bildung im Briefwechsel zwischen Karl Jaspers und Hannah Arendt. in: Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers – Gesellschaft. Herausgegeben von Elisabeth Salamun - Hybasek und Kurt Salamun. Band 9., Wien, 1996. 113-124. sowie www-gewi.uni-graz.at/phil/jasges/vol9.html.kiss
(6) Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit. 8. Abdr. der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage. Berlin- New York, 1979.138-139.
(7) Uo, 140.
(8) Es ist durchaus plausibel, dass viele Kritiken und Anregungen von Jaspers von den politischen Akteuren selbst aufgegriffen und „verwirklicht” wurden. Uns scheint es schlichtweg wenig wahrscheinlich, dass etwa Willy Brandts spaetere Ostpolitik ganz unabhaengig von Jaspers’ Kritik und Analyse der Sozialdemokratie (SPD) und persönlich von Brandt möglich gewesen waere.
(9) S. als weitere Beispiele die scheinbar einander widersprechenden Urteile über die DDR, über den möglichen Raketenkrieg oder über die „gefaehrdete Demokratie” in Deutschland, wo zur gleichen Zeit „nichts passieren kann” und deshalb die wahre Verantwortung und die „grosse Politik” nicht Fuss fassen kann. Also mit der spezifisch Jaspersschen politischen Angst geht folgendes Bedauern zusammen: „Die Bundesrepublik hat, weil die beiden entscheidenenden Gefahren sie nicht bedrohen, keine eigentliche Verantwortung eines souveraenen Staates unter dem Druck der Wirklichkeit…” (270). Ein weiterer solcher scheinbarer Widerspruch ist Jaspers’ Affinitaet zum Einzelnen und zum Volk und seine gleichzeitige Anerkennung der Selbstaendigkeit der politischen Exekutive, bis hin zu den einzelnen Politikerpersönlichkeiten.
(10) S. dazu die darauf reimenden spaeteren Gedankengaenge Jaspers’ über Europa als Sinn, Sinngebung und Sinnestraeger in diesem Versuch.
(11) Die Rekonstruktion dieser philosophischen Politik wird – auf immer höheren Abstraktionsebenen –deutlich zu einem Alternativkonzept zu Carl Schmitt’s politischer Metaphysik. Die allgemeiner werdenden Anstraktionsschichten werden bei Jaspers nie zu einem umfassenden Begriff der politischen Macht integriert. Politik bleibt bei Jaspers Politik.
Politik bleibt also ein Bündel von wirklichen Relationen von wirklichen Menschen und Gruppen zueinander.
(12) Es geht manchmal überhaupt nicht schon um Kritik, es ging oft um die simple Wahrnehmung von Phaenomenen. Eine bittere Tatsache für die postkommunistische Demokratie ist es, dass zuerst qualifizierte Populisten im Ungarischen Parlament den Begriff „Globalisierung” ausgesprochen und auf ihre Weise behandelt haben.
(13) Wohin treibt die Bundesrepublik? 52
(14) Ebenda, 176.
(15) Ebenda, 93. –In diesem Geiste erwartet Jaspers von der Politik geradezu, dass sie die Wünsche und die Motive des Volkes ausdrückt und artikuliert, ganz im Geiste von Nietzsches lucidem Aphorismus „Von der alten und der neuen Regierung” in Menschliches, Allzumenschliches. – Diese wie optimal angenommene „Volksverbundenheit” der qualifizierten Politik kommt in den Erhard-Analysen des Werkes auch sehr vielschichtig zum Ausdruck.
(16) S.- dazu vom Verf. Monetarista globalizáció és magyar rendszerváltás. Társadalomfilozófiai tanulmányok. Budapest, 2002. 1-410. sowie Zur Sozialphilosophie des postsozialistischen Systemwechsels. in: Die Kultur des Friedens. Weltordnungsstrukturen und Friedensgestaltung. Herausgegeben von Volker Bialas, Hans-Jürgen Haessler und Ernst Woit. Würzburg, 1999. (Königshausen und Neumann). 51-60.
(17) Wohin treibt die Bundesrepublik? 34
(18) S. dazu vom Verf.: Über die beiden gleichzeitigen Projekte der postsozialistischen Welt. in: 200 Jahre Kants Entwurf "Zum ewigen Frieden". Idee einer globalen Friedensordnung. Herausgegeben von Volker Bialas und Hans-Jürgen Haessler. Würzburg, 1996. 130-135.
(19) Wohin treibt die Bundesrepublik? 128 – Der Hinweis auf die „innere Ordnung der Bürger” unterstreicht es wieder, dass Demokratie für Jaspers nicht eine politische Technik der Repraesentation war, sondern eine Ordnung, die vom Menschen und dem Volk ausgehen muss.
(20) Wohin treibt die Bundesrepublik?, an mehreren Stellen, so auch 270.
(21) Hannah Arendt, In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken. München, 2000. Band II. 64.
(22) Wohin treibt die Bundesrepublik?,261.
(23) Diese Analyse hat viel strukturelle Momente. Anstatt einer „Wende” fordert Jaspers eine „Umkehr” der Sozialdemokratie, waehrend er bei aller Kritik das Engagement der alten Sozialdemokratie zurückfordert, die noch an grosse Dinge geglaubt und sie allein auch vertreten haben. Aus der Sozialdemokratie erwartet Jaspers auch eine volksverbundene Politik und will diese Gruppe vor einer zu schnelle Beteiligung an der Macht (durch „Kalkulation”) warnen.(Auch im postkommunistschen Ost-Europa könnte man zahlreiche Beispiele dafür anführen, dass eine Partei wegen einer zu frühen Beteiligung an der politischen Macht ihre ganze politische Zukunft eingebüsst hat.)
(24) Etwa: Wohin treibt die Bundesrepublik?,269.
(25) S. vom Verf.: Reflexe gesellschaftlicher Spaltung in Politik und Politikwissenschaft. in: Grundprobleme bürgerlicher Freiheit heute. Herausgegeben von Klaus-M. Kodalle. Würzburg, 2007 (Königshausen&Neumann), 113-118.
(26) S. darüber: Irott és iratlan demokrácia és a posztszocialista média-problematika. in: Médiakritika. Tanulmányok a média kritikai megközelitésének témaköréb_l. Herausgegeben von:Terestyéni Tamás. Budapest, 1997. 63-70., sowie Geschriebene und ungeschriebene Demokratie in der postsozialistischen Transformation. in: Zwischen Triumph und Krise. Zum Zustand der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa. Opladen, 1998 (Leske + Budrich), 77-84.
(27) S. die unter Fussnote 12 angeführten Arbeiten. Darüber hinaus Arendt (a.a.O.62): “Bonn mag nicht Weimar sein, doch die Auflösungsprozesse in der Bonner Regierung…zeigen Züge, die denen der letzten Monate der Weimarer Republik auffaellig aehneln…”
(28) Wohin treibt die Bundesrepublik?,177
(29) Ebenda, 267
(30) S. u.a. Fussnote 14.
(31) Ebenda, 273
(32) Wohin treibt die Bundesrepublik?,232
(33) Ebenda, 232
(34) S. Fussnote, 14.
(35) Hannah Arendt - Karl Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969. Herausgegeben von Lotte Köhler und Hans Saner. München - Zürichm 1993. S. 720.