Ref. :  000026072
Date :  2006-12-31
langue :  Allemand
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Ein Gespenst geht im Postkommunismus um, das Gespenst des virtuellen Modells

Source :  Endre Kiss


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Die turbulenten politischen Ereignisse in Ungarn im Herbst 2006 lassen wieder die lange latent gebliebene Frage nach der Existenz und Beschaffenheit des sogenannten "ungarischen Modells" der postkommunistischen Transformation stellen. Geht es um eine wirkliche dynamische Struktur der Transformation?

Auf diese Frage kann man zunächst nur mit einem scheinbaren Paradoxon antworten. Einerseits, soll es in der politischen Wahrnehmung (klassisch "gestaltpsychologisch", wenn man will) um die weitgehend anerkannte, akzeptierte, nicht selten sogar öffentlich gelobte positive Existenz eines solchen ungarischen Modells gehen. Es war und ist Gegenstand von Diskussionen und wird in politikwissenschaftlichen Diskursen als feste Größe behandelt. Andererseits existiert so ein Modell als fixiertes Paradigma doch wieder nicht. So ein Modell wurde von niemandem öffentlich angekündigt, nie diskutiert, nie von einer breiteren Öffentlichkeit legitimiert, seine Vor- und Nachteile waren im Anfang nie öffentlich genannt, Verlierer und potentielle Sieger des Modells waren nie antizipiert, das Modell ist mit dem Namen keines einzigen Politikers untrennbar verknüpft und hat keinen Basistext, auf den man immer wieder zurückgreifen kann (1).

Eine merkwürdige Doppelsprache entstand auf der Grundlage dieses Paradoxons (die ja lange als eine manchmal sogar als positiv angesehene Selbstverständlichkeit angesehen worden ist). Ein gut wahrgenommenes und des Öfteren positiv erlebtes, manchmal sogar auch als historischer Ausweg bezeichnetes Modell erfüllte die Kommunikation, während sich eine Reihe von konkreten Zusammenhängen, möglichen Konsequenzen und zum Teil erschütternden Folgen in dieser merkwürdigen Anonymität von nicht existenten Autoren, Texten und Verantwortlichen und der nie thematisch genannten Legitimität des virtuell schon existenten Modells versteckten. Die Präsenz in der öffentlichen Diskussionen legitimierte das Modell einigermaßen, eine wirkliche politische Legitimation erfolgte jedoch nie.

Das Schweigen über die wirkliche Legitimation und die (zu erwartenden) wirklichen Konsequenzen führte aber auch zu einer weiteren unerwarteten politischen Folge. Dieses virtuell existierende und stets wahrnehmbare, in Wirklichkeit aber nie angekündigte Modell wurde zum Dauerthema in der Rhetorik der extremen politischen Parteien und Richtungen. In dieser unerwarteten Wendung zementierte sich die Paradoxie nunmehr auf dem Niveau des ganzen politischen Diskurses. Die Problemkreise der zu erwartenden schwierigen Konsequenzen und der nach wie vor fehlenden Legitimation wurden zur politischen Beute der extremen Parteien und Richtungen. Es hatte eine ganze Reihe von weiteren Folgen, in denen wir mit einiger Überraschung die Umrisse der spezifisch ungarischen Spaltung ohne Probleme wieder erkennen können (2). Das virtuelle, wahrgenommene und meistens positiv konnotierte Ungarische Modell blieb Gegenstand der parlamentarisch-demokratischen Diskussion und als solcher gewann es eine zusätzliche, "wilde" Legitimität. Die andere Seite, d.h. die fehlende Legitimation und die zu erwartenden "wirklichen" negativen Konsequenzen wurden zum Gegenstand der extremen Parteien und Richtungen und sie delegimiterten die Fragestellung nach den negativen Konsequenzen selber. Die beiden Seiten der Paradoxie gewannen ihre eigenen Trägerinnen, ihren eigenen politischen Pol. Die demokratisch-parlamentarische Politik erbte das virtuelle ungarische Modell als progressive Alternative (Modernisierung durch ständige ausländische Kapitalzufuhr), die extreme Politik erbte das Argument der fehlenden Legitimation und der Drohung der gefahrlichen Konsequenzen. Die legitime Hälfte der ungarischen Politik legitimierte das Nicht-Legitime im Ungarischen Modell, die ab ovo illegitime Hälfte der ungarischen Politik (d.h. die extremen Partien und Richtungen) delegimierte die Fragestellung der fehlenden Legitimation und der drohenden Gefahren der Zukunft. Die politische Spaltung glättete die ursprüngliche Paradoxie aus.

Wir haben unseren Gedankengang mit dem Doppelstatus des Ungarischen Modells angefangen. Es existiert auf eine Weise, es existiert aber auf eine andere Weise nicht. Jetzt können wir in der Einbettung, in die Spaltung unsere Anfangsidee so modifizieren: Auf dem Ufer der demokratisch-parlamentaristischen Politik existiert das progressive Ungarische Modell als Vorreiter, auf dem Ufer der extremen Parteien und Gruppen existiert das Ungarische Modell als nicht-legitimiert und unheildrohend.

Das Modell vom doppelten Status ist aber in einer charakteristischen Trennung in der politischen Spaltung zweigeteilt worden. In der Tat aber ist das Modell als soziale und politische Realität, als soziales Faktum (Durkheim) doch eine Einheit. Es hat ein Inneres, seine eigentliche Struktur. Sie ist mit einer ständigen Modernisierung identisch, die ihre Finanzierung langfristig von ausländischen Investitionen gewinnt. Zum Modell wird es in Ungarn aber nicht wegen der engeren ökonomischen Realität dieses Verfahrens (denn ökonomisch ist es alles eine alltägliche Praxis), vielmehr wegen der sozialen Strukturen, Mediatisierung, statistisch-empirischer Unfasslichkeit desselben. Hierzu gehört ferner noch die ständige deformierende Wirkung dieser Finanzierung auf die ökonomischen Prozesse selber (der ständige Zwang, die Kredite zurückzuzahlen). Dieses Modell - und es wird in der Diskussion überhaupt nicht thematisiert - erzeugt eine ganze Gesellschaft, deren Interessenlage denen der Interessenlage einer nicht verschuldeten Gesellschaft nicht entsprechen muss. Es hat gravierende Konsequenzen für die Wertvorstellungen, aber auf für die Zusammensetzung der Eliten, für die Mediatisierung, für die Formulierung des nationalen Interesses, die internationale Positionierung des Landes mit eingeschlossen.

Der Kern des realen ungarischen Modells ist also diese Art der Modernisierung. Auf der Grundlage dieser Tatsache lässt sich ferner auch der stets sich Gestalt annehmende Eindruck verstehen, die so oft in Ungarn entstand, als man instinktiv die neue Realität der postkommunistischen Transformation mit jener der Kádár-Zeit verglich. Der rationale Kern dieses Eindrucks war und ist die reale Kontinuität des eigentlichen Zentrums des Ungarischen Modells.

Wäre es wirklich der Fall, dass der treibende und funktionierende Kern des Ungarischen Modells eine Kontinuität mit der Kádár-Periode aufweist, so ergibt sich konsequent, dass dieses System mit seinem hundertprozentigen Staatseigentum, Staatsapparat, mit seiner voll aufgebauten Nomenklatur, mit seinen Machtorganen anfangs ein ausreichendes Gegengewicht zu den möglichen negativen Konsequenzen der Modernisierung mit ausländischen Investitionen dargestellt hat. Das ihm folgende demokratische System trennte sich von diesem Instrumentarium Schritt für Schritt, bis es am Ende mehrheitlich schon ohne eigene Instrumente eine Kontinuität aufrecht erhalten hatte, was ein anderes System in einer vollkommen unterschiedlichen politischen Umgebung und mit einer vollkommen anders aufgerüsteten politischen Apparatur angefangen hatte.

Genügend artikuliert oder nicht, realisierte sich in der politischen Krise des Herbstes 2006 die Krise dieses Ungarischen Modells ganzheitlich. Diese These sollte aber durch spätere Forschungen weiter differenziert werden.

Einerseits sollte einmal klargemacht werden, warum es gerade im Herbst 2006 zu dieser Umwälzung kam (dabei sollten alle Zufallsmomente dezidiert untersucht und reflektiert werden). Andererseits muss im Späteren die extrem komplexe Frage des einmaligen Ineinanders des Ungarischen Modells (Modernisierung mit ständiger Hereinziehung von ausländischen Ressourcen) und des politischen Spaltungsphänomens voll beleuchtet werden. Denn - wie bereits festgestellt - die beiden Pole der Spaltung eigneten sich je ein Gesicht in der Interpretation des Ungarischen Modells an.

Was bereits aus heutiger Sicht gesehen werden kann, ist, dass in einem mehrfach kritischen Augenblick der ungarischen Geschichte (Euro-Anschluss, aktuelle Spaltungsphänomene) ein scheinbar an sich nicht schicksalhafter Fehler des Ministerpräsidenten eine tiefe politische Krise auslöste, die gleichzeitig blitzartig klarmachte, dass das politische System der Spaltung die Korrektion der Anomalien des real existierenden (d.h. nicht des virtuellen) Modells nicht durchzuführen weiß. Es war eine charakteristische Mehrschichtigkeit. Hinter dem Fehler des Politikers erschien die Krise des politischen Systems der Spaltung, hinter der Krise des politischen System der Spaltung erschien das wahre Gesicht des Ungarischen Modells.

Es ist eine merkwürdige Eigenschaft der aktuellen Situation, dass die manifeste Krise kaum die politische Klasse in ihrer politischen Routine ergriffen hat. Es ist durchaus charakteristisch, dass sie praktisch die alltäglichen politischen Aktivitäten der Spaltungspolitik fortsetzt. Umso gründlicher ergriff die Krise (in welcher der politische Fehler zu einer politischer und dann auf diesem Wege zu einer Krise des Modells führte) die Gesellschaft, die in ihren Bewegungen in den von der Spaltung vorgeschriebenen Strukturen nicht mehr aufgeht. Wenn es überhaupt möglich sein soll, erscheint eine offene, durch keine Politik vermittelte Krise der Struktur selber. Die Allmächtigkeit der politischen Optionen der Spaltung ist dadurch aufgebrochen worden. Die Strukturkrise brach aus dieser aktuellen Gelegenheit aus, war selber aber keineswegs die Folge dieses politischen Fehlers. In dieser Krise der Struktur wurden viele wirtschaftlich wie sozial motivierte Auflösungsphänomene der existierenden sozialen Struktur (ganz bis in die Klassenstrukturen hinein) nur sichtbar. Die massenweise betätigten verfassungsgebenden Prozeduren sind nun ein allzu sichtbares Zeichen dieser aktuell nicht politischen, sondern sozialen und strukturalen Krise. Allein durch die Thematisierung neuer Verfassungen wird allzu spektakulär gezeigt, wie ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich nicht mehr verfassungsmäßig heimisch im gegenwärtigen Ungarn fühlt.

In Ungarn wuchs also ein wirtschaftlich-soziales Grundmodell, d.h. dasselbe wirtschaftlich-soziale Grundmodell von der spätkommunistischen in die neoliberale Gesellschaft hinüber. Das politische System hat sich verändert. Neben der Gesellschaft hat aber auch dieses Modell das System gewechselt. Der stets vor sich hin geschobene Vorteil des kleineren Übels wuchs auch in einen umfassenden Nachteil hinüber. Das Modell wechselte das System. Alternative Modelle kamen in Ungarn nicht einmal andeutungsweise in der Diskussion auf. Dadurch zerbrach das stets als Vorreiter angesehene Modell der postsozialistischen Transformation an den Schellen der Wirklichkeit.

Wir stehen aber noch von einer umfassenden Einsicht in jene komplexe Verflechtung fern, in der das Ungarische Modell der Modernisierung und das politische System der Spaltung zueinander standen. Das heißt aber auch, dass wir die Fakten schon haben, die Interpretationen aber noch nicht alle.




(1) Der Verfasser dieser Zeilen ging in seinen Arbeiten über den postsozialistischen Systemwechsel stets von dem Faktum der "Beispiel- und Präzedenzlosigkeit" dieser Transformation aus und hat sich persönlich stets stark darüber gewundert, dass es praktisch von niemandem thematisch aufgegriffen worden war. Einige Beispiele aus der Reihe der diesbezüglichen Publikationen: Zur Sozialphilosophie des postsozialistischen Systemwechsels. in: Die Kultur des Friedens. Weltordnungsstrukturen und Friedensgestaltung. Herausgegeben von Volker Bialas, Hans-Jürgen Haessler und Ernst Woit. Würzburg, 1999. (Königshausen und Neumann). 51-60.; Rhetorics and Discourses of the Post-Socialist Transition. in: Otherhood and Nation. Edited by Rada Ivekovic and Neda Pagon. Ljubljana-Paris (Edition de la Maison des sciences de l'homme), 1998. 139-155.; A poszt-szocialista rendszerváltás diskurzusai és retorikái. in: Demokrácia, Pluralizmus, Tolerancia. Szerkesztette Lendvai Ferenc. Budapest, 1996. és UJ HOLNAP, 42. évfolyam (uj folyam 9.), 1997. január. 159-172. ; Gibt es oder gibt es nicht? Nation - Ideologie - Staat im postsozialistischen Mitteleuropa. in: Neuland Mitteleuropa. Ideologiedefizite und Identitaetskrisen. Herausgegeben von P. Gerlich, K. Glass, B. Serloth. Wien-Torun, 1995. 93-96.
(2) Über die Spaltungsproblematik s. A társadalmi megosztottság politikája és politológiája. Társadalmi megosztottság és tudástársadalom. in: e-Világ, 2005/május. 18-19. és www.evilagonline.hu ; In Über die Politik und Politikwissenschaft der politischen Spaltung.


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