Kann die EU unendlich erweitert werden oder ist die Mitgliederzahl begrenzt? Wenn ja, wo liegt diese Grenze? Wird es bei 30 oder mehr Mitgliedern noch möglich sein, Einigungen zu erzielen? Vom EP wurde nun ein wichtiger Beschluss gefasst, den die beiden Abgeordneten Elmar Brok (EVP-ED, DE), Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, und Marinus Wiersma (SPE, NL), zuständig in seiner Fraktion für Erweiterungsfragen und Autor eines Buchs über die Grenzen der EU, kommentieren.
In dem am 16. März gefassten Beschluss wurde festgelegt, dass die EU nur dann neue Mitglieder aufnehmen kann, wenn sie diese auch mit Sicherheit integrieren kann. Laut Beschluss ist dieser Zustand momentan nicht gegeben, da es - aufgrund der Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden - derzeit keine neue EU-Verfassung gibt.
Brok: Der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnte Verfassungsentwurf sollte gewährleisten, dass die EU auch nach der Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten weiter funktions- und handlungsfähig bleibt. Diese zehn neuen Staaten traten der EU bereits im Jahr 2004 bei. Heute ist die Verfassung noch immer nicht in Kraft und die EU hinkt in ihrer internen Entwicklung stark hinterher. Wir müssen daher sicherstellen, dass die EU-Erweiterung nicht zu schnell fortschreitet, ansonsten geht das politische Ziel verloren.
Im Jahre 1993 legten die nationalen Regierungen die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die die Beitrittskandidaten erfüllen müssen, fest. Dabei wurde auch die "Aufnahmekapazität" der Gemeinschaft (die Fähigkeit, weitere Mitgliedstaaten aufzunehmen) als Kriterium definiert. Dieser Aspekt wurde bislang jedoch in der Praxis ignoriert. Nun ist allerdings eine Grenze erreicht und das Parlament hat deshalb die Europäische Kommission (die EU-Exekutive) aufgefordert, den Begriff der "Aufnahmekapazität" klar zu definieren.
Wiersma: Ich stimme meinem Kollegen zu, dass wir der Frage, ob weitere Staaten der EU beitreten können, mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Ohne eine neue EU-Verfassung sowie interne Reformen zur Steigerung der Effizienz ist eine reibungslose Aufnahme weiterer Staaten nur schwer vorstellbar. Die Integration zehn neuer Staaten im Jahre 2004 war ein großer Erfolg. Dennoch brauchen wir heute Klarheit darüber, wie hoch unsere "Aufnahmekapazität" ist.
Sie sagen, dass die notwendigen internen Reformen für die Aufnahme neuer Mitglieder bisher ausgeblieben sind. Bedeutet dies, dass nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens keine weiteren Länder der EU beitreten können?
Wiersma: Nein. Laut Parlamentsbeschluss muss die EU seine gemachten Versprechungen einhalten. Dazu gehört das Versprechen an die Türkei, Kroatien und Mazedonien, dass ein Betritt nach Erfüllung der Kriterien möglich ist, zumal die Beitrittsverhandlungen[1] mit Kroatien und der Türkei bereits in vollem Gange sind. Aber nochmals, diese Länder müssen zunächst die Beitrittskriterien erfüllen. Anderen Balkanstaaten wurde eine mögliche Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, d. h. wenn der richtige Moment gekommen ist und die Beitrittskriterien erfüllt werden, kann über einen EU-Beitritt verhandelt werden. Diesen Versprechen müssen wir uns verpflichtet fühlen, selbst wenn dieser Prozess wie im Falle der Türkei nur sehr langsam von statten geht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Aussicht auf einen EU-Beitritt der wichtigste Anreiz für Reformen in der Türkei und den Balkanstaaten war.
Das bedeutet auch, dass die EU ihre Hausaufgaben machen muss. Es müssen die notwendigen Reformen durchgeführt werden, um die Integration weiterer Staaten zu ermöglichen.
Brok: Es bleibt abzuwarten, an welchem Punkt die Erweiterung aufhören wird. Wenn das Kriterium der Aufnahmekapazität von der EU ernst genommen wird, müssen selbst Beitrittskandidaten, die alle politischen und wirtschaftlichen Kriterien erfüllen, abgelehnt werden, wenn die EU selbst nicht zur Aufnahme neuer Mitglieder in der Lage ist. Aus diesem Grund habe ich ein neues Modell, sozusagen einen europäischen Wirtschaftsraum “Plus”[2] vorgeschlagen.
Viele Länder möchten vielleicht gerne an solch einer multilateralen Struktur teilhaben, entweder weil der tatsächliche EU-Beitritt noch in weiter Ferne steht, sie vielleicht nie die erforderlichen Kriterien erfüllen werden oder sie ganz einfach der EU nicht beitreten möchten. Die betreffenden Staaten hätten dann den großen Vorteil, dass sie niemals mit leeren Händen dastünden. Momentan geht es bei den Beitrittsverhandlungen um alles oder nichts. Manche Länder arbeiten jahrelang an der Erfüllung der Kriterien - letztendlich gibt es entweder ein klares ja oder nein. Dazwischen gibt es nichts. Und nachdem viele Mitgliedstaaten für weitere Beitritte eine Volksabstimmung gefordert haben, erhöht sich das Risiko einer Ablehnung. Länder, deren Mitgliedschaft beschlossen wurde, müssen selbst entscheiden, ob sie diese Option als Zwischenstufe akzeptieren möchten.
Wiersma: Ich stimme zu, dass eine neue multilaterale Struktur eine gute Alternative zur vollen EU-Mitgliedschaft darstellen kann, insbesondere für Staaten, deren Chancen auf einen kurzfristigen EU-Beitritt oder einen Beitritt überhaupt sehr gering sind. Länder wie beispielsweise die Ukraine oder Moldawien könnten davon profitieren. Diese halben Lösungen dürfen jedoch keinesfalls die Zusagen betreffen, die der Türkei und anderen Balkanstaaten gemacht wurden. Sie befinden sich bereits in einem Prozess, dessen Ziel eine volle EU-Mitgliedschaft ist, selbst wenn die Erreichung dieses Ziels noch in weiter Ferne liegt.
Anmerkungen
[1] Das Verfahren, das von den Beitrittsländern zur Anpassung der EU-Richtlinien und deren Durchführung im eigenen Land, angewandt wird.
[2] Die EEA wurde Anfang der neunziger Jahre von der EU und Mitgliedstaaten der EFTA, einschließlich Norwegen, Österreich, Island, Finnland und Schweden gegründet, damit sich diese Länder am Binnenmarkt beteiligen konnten, ohne der EU beizutreten.