Die Globalisierung wird allmählich zu einem beschreibbaren Phänomen und kann in ihrem unvergleichbaren interpretativen Reichtum auch beschrieben werden. Aus der Globalisierung selbst erfolgt keine konkrete Struktur der internationalen Ordnung, der internationalen Politik.
Es gibt also keine notwendige, mechanische oder gar metaphysische Beziehung zwischen der richtigen Interpretation der Globalisierung und einer konkreten, einzig möglichen oder einzig optimalen internationalen politischen Struktur d. h. "Weltordnung". Der Ausbau der politischen Weltordnung hätte bereits nach 1989 von konkreten Anstrengungen vorbereitet werden sollen. Im Laufe der neunziger Jahre war gerade der Umstand überraschend, dass daran nicht mit Vollkraft vor der tadellosen demokratischen Öffentlichkeit gearbeitet wurde. Während keine Vorbereitungsarbeiten geleistet wurden, geschahen historische Ereignisse, deren Präzedenzcharakter bereits im Augenblick des Geschehens vorausgesagt werden konnte. An Stelle der öffentlichen und gemeinsamen, kommunikativen Vorbereitungstätigkeit beschrieb das stumme Aneinanderreihen der Präzedenzfälle die Formen der möglichen Alternativen der neuen Weltordnung. Es ist aber seit den Anfängen ein Paradoxon und ein Widerspruch, dass die Ergänzung des Völkerrechts durch die Menschenrechte im Zustand der extremen Ungleichheit der tatsächlichen politischen Macht durchzuführen sei .
Während sich auf der einen Seite keine konkret definierte Form der internationalen Ordnung aus der Globalisierung ergibt, können die Rolleninterpretationen der einzelnen Akteure auch nicht die Rolle dieser endgültigen Tatsache und dieses Zusammenhanges spielen. Die Vereinigten Staaten sind ein globaler Nationalstaat und stehen in dieser Rolle allein. Das ist natürlich noch keine Rolleninterpretation, aber eine Gegebenheit im größten Ausmaß. Gleichzeitig ist es auch ein Ausnahmezustand, was in Bezug auf die gegenwärtigen politischen Strukturen einen doppelten Status bedeutet. Hier beginnt auch die unvermeidbare Aufgabe der Rolleninterpretation , die Vereinigten Staaten als einziger globaler Nationalstaat der Welt müssen bestimmen, wie - und mit welchen Inhalten diese Rolle interpretiert werden sollte.
Zwei grundlegende Tatsachen geraten so miteinander in einen sonderbaren Konflikt: einerseits kann die neue politische Weltordnung nur mit politischen Mitteln zustande gebracht werden, und andererseits sind die Vereinigten Staaten der einzige Staat mit einem doppelten Status, der die neue Weltordnung auch allein gestalten kann.
Das ist der konkrete Sinn der fraglichen Rolleninterpretation.
Die Geschichte der Mohammed-Karikaturen ist das neueste und zurzeit entscheidende Kapitel des Prozesses, der mit der Rolleninterpretation der Vereinigten Staaten begann. Die Interpretation des 11. September und der gesamte Irak-Krieg waren die wichtigsten Stationen auf diesem Weg. Die Fallstudie besitzt ein zutiefst prinzipielles und ein zutiefst pragmatisches Element. Das prinzipielle Element besteht darin, dass die in der Kommunikation der Zivilisationen vorrangig entscheidenden Asymmetrien nicht nur verantwortungslos und unmoralisch, sondern jetzt auch in höchstem Maße gefährlich sind. Die einzige Frage besteht darin, warum die professionellen oder unprofessionellen Anwälte des Islams diesen Widerstand erst so spät nutzten. Wenn zum Beispiel jemand heute die Karikaturen sammelt, die anlässlich des Todes Yasser Arafats angefertigt wurden, dürfte die Reaktion wohl ähnlich ausfallen. Das zutiefst pragmatische Element ist das Produkt des historischen Prozesses, das sich aus der besonderen Rolleninterpretation der einzigen Supermacht ergibt. Das bedeutet einfach, dass die zu den Feinden der einzigen Supermacht auserkorenen Akteure gar nicht anders reagieren können; warum sollten sie nicht protestieren, sie ziehen eh den Kürzeren.
Die Geschichte der neunziger Jahre lebte in der doppelten Welt der Dimension fern und nah, sogar im Zauber der endgültigen geopolitischen, politischen, geistigen und zivilisatorischen Herauskristallisierung dieser doppelten Welt, was sicherlich mit der oben geschilderten Rolleninterpretation der Vereinigten Staaten und Westeuropas zusammenhängt. Nicht nur, dass das Ferne nicht als nah empfunden wurde, das Ferne wurde selbstsicher "eingerichtet". Die einander "nahe liegenden" geographischen Räume der Großstädte wurden von der Raumaufteilung nach dem Prinzip der geschützten Räume in "ferne" soziale Räume umgewandelt . Eine Stadt wie Lima kann ein Symbol dafür sein, wie die ganze Welt räumlich in geschützte und sichere bzw. in ungeschützte und chaotische Gebiete aufgeteilt werden kann. Fassen wir diese nicht weniger glaubhafte Gegenbewegung zusammen. Während die Globalisierung (mit allen ihren Detailzusammenhängen) alles in die "Nähe" bringt, was "fern" liegt, hat der vorherrschende Trend der neunziger Jahre jenes in die soziale "Ferne" gelegt, was im Raum "nahe" ist und man lebte in der Überzeugung, dass diese Entfernung endgültig und unverrückbar sei. Dieser Trend konnte auch vom täglich erfahrenen Phänomen der Migration nicht so verändert werden, dass die wahren Zusammenhänge von "nah" und "fern" neu überdacht worden wären.
Obwohl von einer gebührenden Distanz aus betrachtet sind die Mohammed-Karikaturen auch ein Beweis dafür, dass das "Ferne" ziemlich in der "Nähe" ist , dass in einer von Not und Elend geprägten Welt keine Inseln des Wohlstandes aufgebaut werden können, und vor allem, dass der politische Ausbau der neuen Weltordnung, die auf den Grundsätzen der Systemtheorie der politischen Subsysteme beruht, nicht weiter aufgeschoben werden darf.
Ein wichtiger Bestandteil der neuen Ordnung der internationalen Politik, der so genannten neuen "Weltordnung" wäre auch eine neue Interpretation des Verhältnisses zwischen "Gleichheit" und "Differenz". Der Umstand, dass der politisch motivierte Ausbau der neuen Weltordnung eine Verspätung erfährt, ist der beredte Beweis dafür, dass das "Differenz"- Denken der moderierenden Korrektion der "Gleichheit" entbehrt. Auch dabei vertreten die Mohammed-Karikaturen eine eigentümliche Dialektik. Gerade im Zustand der extremsten Differenz appellierten die Verteidiger Mohammeds an die Gleichheit, als sie eine Behandlung verlangten, die anderen Göttern zusteht.
Das große Gewicht des Differenz-Momentes kann nicht unabhängig davon sein, das wir in einer Zeit leben, in der die zweigeteilte Welt durch eine einpolige ersetzt wurde. Während in der zweigeteilten Welt die Differenz durch eine versteckte Gleichheit begründet wurde, wird nun die neoliberal-menschenrechtsmäßige Gleichheit durch die unversöhnliche Differenz konstituiert. Die Macht der Differenz ist das ultimative Merkmal, das absolute Ausmaß des Andersseins . Dies entdecken wir sowohl in der Fallstudie über die Mohammed-Karikaturen als auch in der Aufschiebung der Gestaltung der internationalen politischen Ordnung, der neuen Weltordnung mit politischen Mitteln.
(Das kommt auch in der Parallele Amerika - Rom zur Geltung, wo im Vergleich zu Rom alles Kolonie ist, besser gesagt nur mit dem Prinzip der Differenz beschrieben werden kann). Die Macht der Differenz über die Gleichheit resultiert in steifen und statischen Verhältnisse. Wenn die Differenz eine Größenordnung überschreitet, werden die Dimensionen der Vermittlung (Kommunikation) getötet und die beiden Pole des Differenzverhältnisses können nicht interagieren.
Diese Herrschaft der Differenz-Logik (die sich auch darin zeigt, dass die für die Vereinigten Staaten vorteilhafte Asymmetrie in unvorteilhafte Asymmetrien umschlägt, und dass sich die Dimensionen Vordergrund - Hintergrund, fern - nah wie oben geschildert, verhalten) hat zwei elementare, sogar selbstverständlich anmutende Konsequenzen. Einerseits wird sie zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, die Differenz wird zu einer noch schärferen und noch stärkeren Differenz, wobei es immer schwieriger wird, die Arbeit der Gleichheit, der Vermittlung wieder aufzunehmen. Andererseits schafft die als selbsterfüllenden Prophezeiung fungierende Differenz die Verhältnisse der positiven Rückkopplung . Das Abweichende erweist sich immer direkter als Feind, der Vordergrund wird mit dem Hintergrund immer identischer, das Nahe mit dem Fernen. In der Sprache der Politik führt das zur Eskalation der Feind-Verhältnisse. Das Vordringen der Differenz-Logik auf diese Weise ist schon an und für sich eine Gefahr. Sie wird aber zu einer noch größeren Gefahr wegen der eigentümlichen, neuen soziologischen Strukturen der globalisierten Welt. Die unter den Verhältnissen der Globalisierung unerwartet auftretenden partikularen Interessengruppen können ohne weiteres eine immense Macht akkumulieren. Die brutale Macht des globalen Partikularismus und die der Differenz-Logik bergen zusammen ernsthafte Gefahren für die Gesellschaften in sich .
Die Fallstudie über die Mohammed-Karikaturen ist gleichzeitig die selbsterfüllende Prophezeiung der Huntingtonschen Theorie. Scheinbar verhalten sich die in Reih und Glied aufgestellten Zivilisationen so, wie Huntington es vorausgesagt hat. Aber nur scheinbar: weil die Zivilisation als Zivilisation das verlangt, was auch die anderen Zivilisationen verlangen, ist sie in ihrer Forderung identisch mit ihren Feinden.