Ref. :  000022463
Date :  2006-01-26
langue :  Allemand
Page d'accueil / Ensemble du site
fr / es / de / po / en

Der aktuelle Stand der Europäischen Union vor dem Horizont der Friedensproblematik

Source :  Endre Kiss


In der aktuellen Krise der Europäischen Union (1) können, aber auch wollen wir keineswegs eine ausschließlich moralische, intellektuelle, oder sonst wie identitätsbezogene Fragestellung aufbauen(2). Trotz unserer Einsicht und Selbstbeschränkung lässt sich die Fragestellung nach Zielvorstellungen und Identität der Europäischen Union jedoch keineswegs von der Hand weisen. Die Notwendigkeit einer expliziten Artikulation der europäischen Identität liegt auf der Hand, die Einsicht in die hyperkomplexe Funktionsweise der Union legt uns jedoch die Pflicht der Selbstbeschränkung sofort auf. Darin liegt aber ein Widerspruch und ein Paradoxon zugleich. Denn diese Krise besteht ja darin, dass ein naturgegebenes und evidentes Vertrauen in die synergetische, d. h. die selbst organisierende Kraft dieses Gebildes kritisch erschüttert wurde. Die EU arbeitete bis jetzt auch nicht bewusst an ihrer Identität, dieses Vertrauen in einen autopoietischen Vorgang war jedoch noch nie erheblich erschüttert.

Die Problematik einer europäischen Identität an sich, im akademischen Sinne eine uferlose Problematik, zeichnet sich auch dadurch aus, dass sich ihre historische und politische Einbettung im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts permanent geändert hat. Es ist ausschließlich nur eine simple Konsequenz der Kurzlebigkeit der kollektiven Erinnerung(3),dass diese schillernde Vielschichtigkeit und die mit ihr verbundene hundertfache Kontextualisierung geräuschlos vergessen wurde.

Die Diskussion über die gemeinsamen Symbole vor wenigen Jahren bot Europa eine einmalige Möglichkeit, einen deutlichen, wenn nicht sogar einen entscheidenden Vorstoß auf dem Wege der Klärung der Identitätsproblematik zu erzielen. Zu unserem alltäglichen Erlebnis wurde der unaufhörliche Kampf der beiden extremen Positionen, d.h. die permanente Auseinandersetzung der „Nominalisten” mit den „Realisten” von Symbolen, bzw. Symbolbildung. Während die Nominalisten in der sozial-politischen Symbolwelt bloß Namen, zeitgemäßer ausgedrückt: „Zeichen” erblicken, entdecken die „Symbolrealisten” hinter jedem einzelnen konkreten Symbol essentielle Inhalte und Instrumente der sozialen Sinngebung. Der ewige Krieg zwischen Nominalisten und Realisten weicht aber im Wesentlichen von unserem Problem der Konstitution einer europäischen Identität im Rahmen der real existierenden Europäischen Union ab. Auf der konkreten Ebene ging es vor einigen Jahren um die Inaugurierung eines Symbols, das noch nicht allgemein anerkannt war und folglich als Symbol noch nicht existierte. Wichtiger aber als die möglichen Errungenschaften eines treffend und erfolgreich gewählten Symbols wäre aber die positive Erfüllung der in dieser Wahl liegenden Testfunktion gewesen. Denn im Wesentlichen war es eine Probe, und zwar in einer noch verhältnismäßig glücklichen historischen Periode. Denn die bewusste Auswahl und Inaugirierung von Symbolen ist ein transparenter Augenblick im Leben der Gesellschaften, in einem gewissen Sinne ist sie der Augenblick der Wahrheit auf die realen Kräfteverhältnisse hin, ein Test nicht nur für die Prinzipien, sondern auch für die Einsicht in die wirklichen Machtpositionen.

Im Mittelpunkt dieses Gedankengangs steht deshalb nicht jene Einschätzung, in welcher Proportion etwa christliche Symbole in den diversen Dokumentationen europäischer Identität erscheinen sollten. Die Frage ist also nicht, was das Verhältnis des Christentums zur Geschichte und zur Identität von Europa ist, sondern die, welche Verhältnisse in einem Augenblick der Wahrheit, d.h. der Entscheidung auf dem Wege der Institutionalisierung verewigt werden. Die Frage ist also welche konkreten Relationen eines historischen Prozesses in der Konstituierung einer neuen Welt der Symbole verewigt werden.
Dieser einmalige Augenblick(4) hat eine äußere, d.h. über Europa hinausweisende und eine innere Dimension. Der äußere Bezug wurde in den letzten Jahren sogar auch noch extrem aufgewertet, dieser Bezug prägt das Bild Europas in der nunmehr „globalen” Welt. Die einzusetzende Symbolik hatte in diesem äußeren Zusammenhang die Mission und die Funktion, Europa in dem internationalen Vergleich positiv zu bestimmen. Der äußere Bezugsrahmen hat in dem Sinne auch noch eine spezifische Facette, dass nämlich die anderen „globalen” Einheiten heute vor allem durch religiöse (bzw. religiös gefärbte kulturelle) Merkmale definiert werden, die pure Tatsache des Vergleiches allein wirkt also in der Richtung, dass die europäische Identität selbst auch religiös bestimmt sei(5).

Dieser äußere Bezugsrahmen ist es, der - wenn auch nicht ausschließlich – auch das innere Bezugssystem der europäischen Identitätskonstitution bestimmt. Der Augenblick der Nennung der eigenen Identität war schon zu seiner Zeit ein essentialistischer Augenblick und er erwies sich im späteren auch als essentialistisch(6). Essentialistisch war dieser Augenblick in dem vorhin angeführten doppelten Sinne. Er hat (hätte) eine positive Identität zu entwerfen. (das wäre der positive Sinn gewesen), er galt aber auch als ein Testfall. Aus diesem Grunde gilt es als eine historische Tatsache, dass Europa _ an keinem Symbolsystem _ geeinigt werden konnte. Das wirkliche Problem war und ist es trotzdem nicht, dass die Europäische Union in keiner Symbolwelt einig werden konnte. Das historisch Einmalige war, dass Europa eine virtuell bereits fertig vorliegende reife Identität und Symbolisierung zu rechter Zeit nicht zur endgültigen Repräsentation erhoben hat. Europa hat den besonders günstigen Augenblick verpasst. Uns kann aber auch schon jetzt dünken, dass dieses Verschlafen der optimalen Beantwortung der historischen Herausforderung nicht nur in diesem Zusammenhang für charakteristisch in diesen Jahren war.

Diese außerordentlich schwierige Aufgabe war nämlich gleichzeitig auch eine außerordentlich leichte. Die wirkliche historische Botschaft des Jahres 1989 bestand gerade in der praktischen Neuformulierung einer kreativen und zeitgemäßen europäischen Identität. Die endgültig scheinende Harmonisierung der einzelnen Momente und Komponenten der europäischen Identität schien Wirklichkeit geworden zu sein(7).

Die Fixierung der Inhalte der Identität gilt in jedem Fall als differenziertes Fachproblem. Gerade durch die mögliche Bewahrheitung dieser Fixierung durch reale Akteure wird der Akt der Sanktionierung zu einer fleischgewordenen Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, zwischen sozialem Bewusstsein und sozialer Praxis, zwischen Integration und Differenzierung. Der Akt der Fixierung geht inmitten einer lebendigen sozialen Welt vor sich, die selben Werte, die in der theoretischen Diskussion genannt werden, erscheinen in der sozialen Welt in _ einen Jahr als vital und konstruktiv, während sie in einem anderen Jahr als miteinander unvereinbar vorkommen. Indem beispielsweise in der aktuellen europäischen Fragestellung vor allem das Christentum und die Aufklärung als funktionierende „Wertzentren” direkt angesprochen worden sind, darf man nicht vergessen, dass bei der anvisierten Synchronisierung dieser Wertgruppen auch soziale, nationale und kulturelle Werte in Betracht gezogen werden sollten. Die Synchronisierung der Werte in einem Zusammenhang, wie derjenige des historischen Weges der Europäischen Union ist, war und ist nicht nur und vor allem nicht vornehmlich ein bewusst - dezisiver Akt. Eine gelungene und optimale Harmonisierung der wichtigsten Wertegruppen kann ebenso, wenn nicht noch intensiver (erstaunlicherweise) ein spontaner Akt sein (wofür gerade das Jahr 1989 das bestmögliche Beispiel lieferte). Das Kriterium für die öffentliche Deklarierung der Werte der europäischen Identität bestand in der realisierten oder nicht realisierten Harmonie mit der freien und spontanen Bewegung der Werte. In dieser Beleuchtung wird es sichtbar: Europa hat es versäumt, zur Zeit der Auferstehung seine Identität zu deklarieren und es bleibt eine Frage, ob und wie es nachgeholt werden kann.

Das Schicksal der Analogie der mittel-europäischen Identität ist nicht von der Hand zu weisen(8). Ob wegen der fehlenden mittel-europäischen Sozialisation der neuen Eliten oder ob wegen der fehlenden westlichen Unterstützung oder aber ob wegen des Ur-Mißtrauens der betreffenden Staaten einander gegenüber verschwand dieses bereits fast ganz manifest gewordene mittel-europäische Bewusstsein wie ein Schneemann in der Mittagssonne. Diese Analogie dürfte aufzeigen, mit welcher Geschwindigkeit selbst endgültig scheinende Identitätsformationen in der rasenden Transformation von politischen Interessenlagen von der Bildfläche verschwinden können.

1989 machte auf eine neue und mehrfache Weise deutlich, dass die europäische Identität eine einmalige und organisch zu nennende Einheit von Christentum und Aufklärung ist. Die öffentliche Wahl der Symbole, wie bereits ausgeführt, thematisiert die essentiellen Inhalte dieser Identität, sie ist aber auch ein Test für die jeweiligen Verhältnisse, d.h. für die jeweiligen Machtverhältnisse der Beteiligten.

Die semiotische Relation kehrt sich in ihr Gegenteil. Das Zeichen bezeichnet dabei nicht vor allem den Inhalt (die Botschaft), es macht in zunehmendem Maße_aber auch die hinter der ganzen semiotischen Prozedur stehenden Relationen transparent. Das Zeichen bekommt dadurch eine sekundäre Funktion. Es drückt nicht mehr ausschließlich Inhalte oder Botschaften aus, es macht feine und versteckte Machtverhältnisse wahrnehmbar, die ansonsten kaum je transparent werden können (und dürfen). Die plötzlich erlebbar werdende Transparenz lüftet den Schleier der Konsenslosigkeit vor dem idealisierten Gesicht der europäischen Politik. Sie äußert die Tatsache des tiefgehenden Konsensmangels gerade in dem konkreten Zusammenhang_, in welchem gerade die prozessuelle Erneuerung und Verfestigung der Symbolbildung die Kraft des Konsenses zu artekulieren (?) berufen gewesen wäre.

Die Wende des Jahres 1989 kam mit voller Eindeutigkeit
zur Aussage eines Optimums der europäischen Identität. Die aktuelle Situation ist also nicht von den essentiellen Schwierigkeiten der Konsensbildung gekennzeichnet, sie ist viel eher motiviert dadurch, dass die notwendigen Bedingungen der Sanktionierung des bereits erreichten und evidenten Konsenses schwanken und die bereits erreichte optimale Lösung im nachhinein zu erodieren anfängt(9).

Ein Versäumen der Sanktionierung und der Bestimmung einer kollektiven Identität hat aber auch seine Gefahren. Diese Gefahren sind seitdem zum Teil in der Form von Krisenphänomenen Wirklichkeit geworden.

Die im späteren anzudeutenden Krisenphänomene der Europäischen Union wären überhaupt nicht vollzählig auf die verpasste Deklarierung einer europäischen Symbolwelt zurückzuführen. Das gemeinsame Glied bildet jedenfalls das Moment der Identität. Wir werden nämlich kaum eine als Krisenphänomen zu bezeichnende Erscheinung finden, in welchem die fehlende Identität nicht eine gewisse Rolle spielen würde.

Die Europäische Union wurde aufgrund gewisser Annahmen konstruiert. So wäre eine methodologisch korrekte Rekonstruktion der primären und sekundären Annahmen, in deren Zeichen man die EU aufgebaut hat, von großer Wichtigkeit. ”Annahmen” stehen nicht grundsätzlich im Zeichen von “wahr” und “falsch”, sie sind Momente der als gültig geltenden kollektiven Einsichten. Es geht also nicht um ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt, vielmehr um den Nachweis der realen historischen und soziologischen Existenz von solchen Vorstellungen und Einsichten.

Die sich als die wichtigsten erwiesenen Annahmen waren die folgenden: a) Annahme der dynamischen Harmonie zwischen Wettbewerb und Sozialstaatlichkeit; b) Annahmen von endgültig angenommenen gesamt menschheitlich
positiven historischen Entwicklungen (nie wieder Krieg in Europa, endgültige Akzeptanz sozialstaatlicher Minimalwerte, Annahme einer endgültigen Hegemonie einer umfassenden aufklärerischen Auffassung); c) Annahme der inneren Harmonie in den fundamentalen Zielen und Werten seitens aller beteiligten Akteure; d) Annahme der positiv-wohlwollenden internationalen Umgebung und internationalen Politik; e) Annahme, dass das einzige Konfliktfeld (im Wesentlichen) auf der Basis des Ausbau der Marktwirtschaft in der Form von “natürlich” auftretenden internationalen Konflikten entstehen wird; f) Annahme (nach 1989) eines endgültigen historischen Sieges über
dem Kommunismus.

Dazu gesellte sich eine Psychologie des gemäßigten Wunschdenkens: weil die sechs Annahmen nicht nur als sehr perspektivisch, sondern auch als sehr gesichert, vielleicht sogar als evident galten, wurde die funktionale Ausdehnung stets in jeder auftauchenden Problemsituation mit einem spezifischen Wunschdenken begleitet (das remedy-Symptom großer geschichtstheoretischer Konzepte).

Aus diesen im Wesentlichen in einer Richtung weisenden Annahmen ergaben sich auch einige umfassendere, abstraktere (Meta-)Annahmen, wie folgt:

a) die Meta-Annahme: aus dem dynamischen Netzwerk von allseitigen partikulären Interessen werden sich Kristallisationspunkte universaler, gattungsorientierter Werte, Akteure und Institutionen entstehen; b) die Meta-Annahme: aus dem dynamischen Netzwerk von allseitigen partikulären Interessen werden sich die universalen par excellence europäischen Werte wie “von allein” regenerieren; c) die Meta-Annahme: aus dem dynamischen Netzwerk von allseitigen partikulären Interessen wird sich eine umfassende und integrative europäische Lebensform entstehen, in denen die bisherigen partikulären
Lebensformen reibungslos aufgehen; d) die Meta-Annahme: aus dem dynamischen Netzwerk von allseitigen partikulären Interessen wird sich einen europäischen Ausgleich auch im Sozialen bringen.

Die fundamentale Bedeutung der sechs Annahmen führt auch dazu, dass_je derzeit jeweils so viele undefinierte Begriffe und Phänomene im einzelnen auftraten und immer noch auftreten, wie das permanente Fehlen von so vielen um Europa besorgten Aspekten (Werte, Identität, Telos, feinere Marktregelung, allerlei Ausnahmen, Staatsform, Öffentlichkeit, Institutionen, Schutzmacht, Ordnungsmacht, Stelle in der Welt, Funktion in der Globalisierung, Erweiterung, Friedensmacht, Balkan-Engagement, Beziehung zu den USA, zu UNO, etc.) thematisiert worden sind. Jegliche grundlegende (spontane oder bewusste) Modifizierung der sechs Annahmen die Prinzipien und die Praxis der EU fortwährend in eine Sphäre der “unvorhersehbaren, unbestimmten und unerwarteten Gegenständlichkeiten” hineinmanövrieren. Es versteht sich aber auch von selber, dass jede neue Entwicklung, die von den sechs Annahmen_nennenswert abweicht, gleich zu großen Erschütterungen führt.

Die umfassende Bedeutung (wenn man will: die Macht) der sechs Annahmen unterstreicht jetzt unter diesem Sichtwinkel die Relevanz der vorhin vorgeführten Identitätsproblematik. Jede Modifizierung in den Annahmen fordert Eingriffe und Korrekturen heraus. Zu ihnen gehört aber eine immer selbständiger werdende und stets evidentere Identität, aufgrund welcher überhaupt gehandelt werden kann.

Die aktuell führenden strukturellen Widersprüche der real existierenden EU sind die folgenden: a) Widerspruch zwischen der Komplexität der zu lösenden Aufgaben und der arbeitsteiligen Profilierung der möglichen politischen Institutionsformen; b) Widerspruch der weit entwickelten funktionalen Zusammenarbeit und der pluralen politischen (und aller weiteren nicht-funktionalen) Legitimation und Zusammenarbeit; c) Widerspruch zwischen EU-Bürokratie und nationalstaatlicher Entscheidungssphäre; d) fehlender intensiver Ausbau von europäischer Zusammenarbeit, neben “spontaner” Annäherung in Europa gezielte “bewusste” globale Eigeninteressen und Eigenaspirationen sogar auch außerhalb Europas; e) die Entstehung der europäisch auftretenden nationalstaatlicher
Oligarchien; f) die selektive Entwicklung der Funktionen der Bürokratie; vor Max Webers Hintergrund eine Selektion der Funktionen. Nationale Bürokratien sorgen für die primäre Reproduktion der Gesellschaft ohne kreative Gestaltungsmöglichkeiten, europäische Bürokratien sorgen für die kreative Gestaltung Europas, ohne um die primäre Reproduktion der Gesellschaft sorgen zu müssen; g) nicht entwickelter Sinn für Solidarität, Erkennen des Anderen, etc. mit anderen Worten für alles, was als “ungeschriebene”, “tacit” Bedingung und Grundlage eines differenzierten Europa angesehen werden kann, gewaltiges Defizit in der europäischen Lebenswelt gerade an dem, was man spontan als “europäisch” identifiziert; h) kritische Schwächung der Anziehungskraft der europäisch angenommenen Identität, die Herauskristallisierung einer europäischen Anthropologie eines rückwärtsgewandten Kleinbürgertums, die aus seinen Aktien lebt; i) Widerspruch zwischen gelegentlichem Wunschdenken (das aus dem remedy-Modell kommt) und politischer Rationalität.

Der Sinn der jetzigen Krise ist also, dass die alte EU der sechs Annahmen eine neue EU der im vorigen Diskurs aufgezählten Strukturkonflikte hervorgebracht hat.

Bei der näheren Bestimmung der Herausforderungen würden wir nicht von Globalisierung reden (obwohl sie, wie wir es bald sehen werden, auch hinter diesen steht), wir würden im Geiste unserer Ausführungen von den Veränderungen der vier Annahmen sprechen.

Die Frage ist: kann eine so strukturierte Union die Herausforderungen beantworten? Im Augenblick scheint diese Frage nicht so leicht positiv beantwortbar zu sein, und zwar aus zwei Gründen: a) es ist eine so komplexe und gleichzeitige Aufgabe, dass sie intellektuell in der Sphäre der arbeitsteiligen Institutionen kaum gemeistert werden kann; b) die zur Beantwortung der Herausforderung notwendigen Ressourcen scheinen schmerzlich zu fehlen.

Der europäische Prozess, sowohl was die Identität als auch was die strukturdynamischen Probleme anlangt, vollzieht sich im Soge der Globalisation.

Die Verhältnisse der Globalisation zeigten zahlreiche und zumeist bis jetzt noch unerschlossene Veränderungen, die die Demokratietheorie, sowie auch die demokratischen Gesellschaften deutlich herausfordern. Sie bedeuten eine Herausforderungen für die postsozialistischen Demokratien in einem erhöhten Masse. Globalisation und Fragmentation, Globalisation und Multikulturalität, Globalisation und multikulturelle Heterogenität, Globalisation und neue kollektive Identitäten markieren alle Tendenzen, die eine wohl definierbare demokratie-theoretische Auswirkung haben. Die dabei entstehenden neuen politischen Spielräume sind zum Teil auch nicht erschlossen, bzw. in ihrer Komplexität und Simultaneität ausreichend erfasst.

In der aktuellen europäischen Situation werden Bruchlinien in ihrer Systematisierung des Öfteren zu einer Spaltung, die scheinbar schon als Grund und Quelle der Bruchlinien erscheint! Dies ergibt eine dynamische Struktur mit ganz merkwürdigen Eigenschaften, Spaltung als Endergebnis eines konstruktiven Denkprozesses erscheint als Urgrund und universale Quelle aller Bruchlinien, manchmal weiß man nicht mehr, was Grund und was Folge ist (10).

Das Aufzeigen des qualitativen Unterschiedes zwischen Bruchlinien und Spaltung macht das Ziel dieses aktuellen Versuchs aus, aber auch als das Aufzeigen derselben als ein Symptom der europäischen und der internationalen Politik.
Auf der einen Seite steht es fest, dass die Globalisierung mit einer generellen Abwertung des Politischen in einem mehr oder weniger korrekten systemtheoretischen Sinne zusammengeht. Auf der anderen Seite wirkt aber – zwar auf einer anderen, etwas mehr untergeordneten Ebene – auch die gegenläufige Tendenz, dass die Bedeutung des Politischen (und dadurch der Wert des Besitzens der exekutiven politischen Macht) auch größer wird. Die Auflösung dieses Paradoxons erscheint in der Realsphäre des Politischen. Die Abwertung des Politischen entstammt nämlich aus der Tatsache, dass die einzelnen Staaten im Strome der Globalisierung über immer weniger Ressourcen und Kompetenz verfügen. Gerade diese Verringerung des Tätigkeitsvermögens des Staates führt aber auf der anderen Seite – daher das Paradoxon ! – zur Erhöhung des Wertes der exekutiven politischen Macht, weil die Verteilung der geringer werdenden Ressourcen und die Ausübung der geringeren Macht für die übrig gebliebenen politischen Räume trotz der absoluten Abwertung, relativ betrachtet, doch noch aufgewertet wird.


Die Spaltung steht auf und wird praktischer Moviens, die Spaltung wird zu einem Golem, der aufsteht und von seiner immer stärkeren Macht deutlich Gebrauch macht. Die Spaltung ist somit einerseits ein Produkt der aktorialen Verteilung in einer Gesellschaft, sie ist also, andererseits, praktisch schon der letzte Grund für das Weiterbestehen einer aktorialen Struktur in derselben Gesellschaft. Eine auktoriale Dimension, die von dem Punkt an von einer konkret definierten Spaltung determiniert und im wahren Sinne des Wortes reproduziert wird, lässt nur Aktoren hochkommen, die dieser Spaltung angepasst sind. Von dem Punkt an, als die Spaltung also nicht mehr als Ergebnis eines Realvorganges oder einer gedanklichen Rekonstruktion, vielmehr als eine feste Struktur auftritt, die sogar die weitere Reproduktion der politischen Verhältnisse allein bestimmt, verändert sich die ganze Soziologie und die ganze Pragmatik des gesamten politischen Lebens.

Die Verschärfung der Bruchlinien führt (?) zu einer Spaltung mit wichtigen Tendenzen im Zusammenhang mit der Globalisierung. Der Nationalstaat büsst an Souveränität und Autonomie ein, womit zusammengehen kann, dass das “gesamtnationale” und “gesamtstaatliche” Interesse auch an Intensität und Aktualität einbüsst. Diesbezügliche politische Ängste verringern also die stets wachsende Intensität des Cleavage, die in die Vorformen der Spaltung übergehen kann. Bedenkt man ferner, dass der politische Heimsieg nicht mehr zur heimischen Machtausübung, vielmehr auch zur Machtausübung in neuen, zum Teil unentdeckten politischen Räumen befähigt. Der politische Heimsieg legitimiert eine Linie oder einen Politiker nicht mehr nur zur Vertretung des nationalen Interesses, er befähigt zu viel größeren politischen Beute in Weltwirtschaft und internationaler Politik.

Das Phänomen des Wachsens der politischen Spaltung lässt sich in den politischen Systemen der Europäischen Union deutlich vernehmen. Sie lässt sich, wie beschrieben, von zwei Seiten von der Globalisierung herleiten (ein Wachstum des Wertes der exekutiven politischen Macht aufgrund internationaler Rollen und aufgrund der Verteilungsmacht der stets geringer werdenden staatlichen Ressourcen).

Wie die Identitätsproblematik, die Strukturkrisen und das Spaltungsphänomen aufeinander wirken, wird uns erst die Zukunft der Europäischen Union deutlich zeigen.




(1) versteht sich, dass wir im Folgenden nur einige relevante Bereiche der EU-Entwicklung thematisieren können, ein Anspruch auf inhaltliche oder thematische Vollständigkeit wäre nicht realistisch. - Hier müssen wir auch erwähnen, dass der Gedankengang Forschungen und Einsichten enthält, die im Laufe des Forschungsprojektes „Változás és jövõ“ im Rahmen des OTKA-Forschungsprojektes T 043522 ausgearbeitet worden sind.

(2) sich das erste ernstzunehmende Krisenphänomen der Europäischen Union gerade in der Unfähigkeit gezeigt hatte, umfassende europäische Symbole aufzustellen, heißt nicht, dass die Umkehrung des Zusammenhanges auch richtig wäre. Die vielfache Identitätsproblematik der EU geht weit über die Sanktionierung, bzw. die Sanktionierbarkeit der europäischen Symbole hinaus.

(3) Die Historiographie der so genannten Europa-Idee bietet tatsächlich ein Paradebeispiel für jede wichtige Eigenschaft der kollektiven Erinnerung, sie weist einen merkwürdigen Rhythmus auf und repräsentiert stets sich voneinander meilenweit unterscheidende Entwürfe.

(4) Sinngemäß ist es natürlich nicht der einzige einmalige Augenblick in einem so singulären und komplexen Prozess wie der der europäischen Integration.

(5) Dieses Element scheint Samuel S.Huntingtons Zivilisationstheorie zu bestätigen, obwohl dieses alleine dafür insofern noch nicht ausreicht.

(6) Was die Gegenwart (Anfang 2006) anlangt, so muss man sehen, dass das Nichtübereinkommen in der Feststellung der gemeinsamen Symbolik auch seine konkreten Auswirkungen auf die europäische Befindlichkeit gehabt hatte.

(7) Es ließe sich vielfach empirisch dokumentieren.

(8) Wir haben für diese Situation eine sehr reichhaltige Analogie. In den siebziger und achtziger Jahren erstand eine neue und integrative mittel-europäische Identität und Hochkultur. Diese siegreiche neue Identität hatte in fast jedem wichtigen Bezug relevante neue Botschaften (Antikommunismus, Liberalismus, Intellektualismus, Anspruch auf eigene Lebenswelt, etc.), sie mobilisierte tatsächlich die Inhalte der eigenen und zwangsweise verdeckten Traditionslinien. Sie war wie geschaffen für einen postkommunistischen Neuanfang in dieser Region. Aus dieser Identität ist aber in der wirklichen Freiheit Mittel-Europas nichts geworden (deren vermeintliche Gründe gehen natürlich über diese Überlegungen weit hinaus).

(9) Kein Wunder, dass es jene Zeit war, in welcher die Zusammensetzung „christlich-jüdisch“ in der Sprache der Kultur und der Politik weitgehend verbreitet worden ist.

(10) Schon jetzt weisen wir darauf hin, dass die Tendenz, aus Bruchlinien eine Spaltung zu entwickeln, in ihren Ansätzen sich in beinahe allen europäischen Staaten bemerkbar macht.



Notez ce document
 
 
 
Moyenne des 18 opinions 
Note 2.00 / 4 MoyenMoyenMoyenMoyen
Du même auteur :
 flecheThe Real Existing Real Reality 2022
 flecheWiener Philosophisches Forum
 flecheConstructivité et destructivité dans la globalisation, comme toile de fond de la problématique actuelle de paix
 flecheA propos de la philosophie de la globalisation actuelle
 flecheLibrement
 flecheThe Dialectics of Modernity - A Theoretical Interpretation of Globalization
 flecheThe Philosophy of the Crisis
 fleche„Die Rolle der Philosophie im Marxismus” oder die Rolle der Philosophie in den siebziger Jahren
 flecheGlobalization and the pitfall of cataclysms
 flecheFrom the logic of difference to the global changes

 flecheÜber den Wandel des Kriegsphänomens im Zeitalter der Globalisierung
 flecheVon der Verjaehrung zur oligarchischen Demokratie
 flecheDer Knecht und die Gesellschaft (Einige neue Aspekte der Hegel-Kritik des jungen Marx)
 flecheEin Gespenst geht im Postkommunismus um, das Gespenst des virtuellen Modells
 flecheGlobalisation and the network of cataclysms - the politics and state-image of the third millenium (twenty theses)
 flecheVerfeinerung, Verdichtung, Ausdehnung…
Karl Mannheims Marx-Interpretation

 flecheHermann Broch und das geschichtsphilosophische Gegenwartsmodell
 flecheDas Archiv in den Umrissen einer Wissensgesellschaft
 flecheMohammed, die Karikatur
 flecheThe Neo-Liberal Turn of Social Democracy
 flecheEvolving a System of International Politics in the Age of Globalization (Iraq as a Case Study)
 flecheSix theses about global media
 flecheÜber Krise und Funktionswandel der Europäischen Union
 flecheÜber die Politik und die Politikwissenschaft der politischen Spaltung
 flecheMenschenrechte und Menschen im Strome der Globalisation
 flecheMonetarismus und Liberalismus: Zu einer Theorie der globalen und geschichtsphilosophischen Aktualität
 flecheDroits de l'homme et néolibéralisme
 flecheFin de l'Histoire
13
RECHERCHE
Mots-clés   go
dans 
Traduire cette page Traduire par Google Translate
Partager

Share on Facebook
FACEBOOK
Partager sur Twitter
TWITTER
Share on Google+Google + Share on LinkedInLinkedIn
Partager sur MessengerMessenger Partager sur BloggerBlogger