Ref. :  000017822
Date :  2005-03-21
langue :  Allemand
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Partage de la raison

Partage de la raison

Source :  Rada Iveković


Grenzen auf der Erde oder Grenzen zwischen Gedanken - les partages de la raison - sind Beschränkungen, die Unterschiede zunächst herstellen, dann hierarchisch gliedern und ihnen schließlich normativen Wert zuordnen sollen. So gesehen ist die Vorstellung, es gebe einen zeitlichen Rückstand der Frauen als Bürgerinnen (in Frankreich etwa 150 Jahre auf das "allgemeine Wahlrecht", also jenes der Männer) oder einen Rückstand der Dritten Welt auf den Westen, die so sehr den Versuch deutlich macht, eine zeitliche Grenze zwischen Moderne und Vormoderne zu errichten, selbst ein normativer Standpunkt. Diesen müssen wir widerrufen, wollen wir uns von einer eurozentrischer Perspektive entfernen und uns unterschiedlichen sconfinamenti, unterschiedlichen transborderings, also Grenzüberschreitungen öffnen. "Sich dort einzufinden, wo Denken lebensnotwendig ist", könnte das traditionelle eurozentrische Verständnis von Aufteilung und Grenzen deutlich korrigieren. Es müsste darüber nachgedacht werden, die "Position des Subjekts", oder besser: jenen Prozess, den es darstellt, nicht egozentrisch (ob individuell oder kollektiv), sondern von einer Lebensnotwendigkeit her zu verstehen: Dort, wo Denken der letzte Ausweg ist, um (nicht nur im materiellen Sinn) zu überleben und weiterzubestehen, weil nichts anderes übrigbleibt. Ebenso muss über die als Negativ konstruierte Staatsbürgerschaft auch positiv nachgedacht werden, selbst dort, wo sie nicht anerkannt wird, wo sie nur für die Zukunft erhofft wird - zum Beispiel im Zusammenhang mit Umsiedlung, Obdachlosigkeit, Flüchtlingen, der Flucht ganzer Völker oder Migrationsbewegungen. Dies bedeutet eine Veränderung der Vorstellung von Grenzen und Aufteilungen. Diese bestehen aber nicht nur aus starren territorialen und räumlichen Schranken; sie entstehen überall und auf unerwartete Weise.
Wir werden versuchen, nicht nur Kon-stitution und In-stitution , sondern auch Ex-titutionen, also Ausnahmen zu untersuchen, die in externalisierten "Zonen" oder zu "Zeitpunkten" stattfinden, die nicht Teil des Denkprozesses sind, "ungedacht" bleiben und so die normative Zäsur zwischen Verstand, Vernunft und ihrem Gegenteil abbilden.

Staaten, esprits, Weltanschauungen und Kulturen können auf verschiedene Weise voneinander abgegrenzt werden. Wir haben damit begonnen, geografische und territoriale Abgrenzungen zu untersuchen (wahrscheinlich, weil diese besonders schmerzhaft waren, wenn Familien plötzlich getrennt wurden etc.), dann haben wir festgestellt, dass Trennungen auf zahlreichen anderen Gebieten stattfinden können. Man kann sagen, dass jede Gesellschaft, weit über den Staat hinaus, in vielerlei Hinsicht geteilt ist. Der Staat kann diese Abgrenzungen vertiefen oder versuchen, sie zu entschärfen, er kann sie aufrechterhalten oder nähren. Es sind nicht nur Staaten, die Trennungen unterliegen (von der Nation zur Teilung, von der Teilung zur Nation), auch Gesellschaften erleiden tiefe Spaltungen, die ständig neu geschaffen und ausgehandelt werden.

Es wird zunehmend deutlich, dass staatliche und soziale Grenzen nicht von den partages de la raison getrennt werden können.

Auch darf man nicht vergessen, wie Balibar sagt, dass Grenzen eine europäische und ihrem Wesen nach koloniale Erfindung sind. Vor dem neuen Hintergrund der Globalisierung sind neue Grenzen in Europa entstanden, die außerhalb der Reichweite seiner eigenen Bürger liegen, Gebiete, in denen das Recht keine Gültigkeit besitzt, noch bevor Migranten und Flüchtlinge Asyl beantragen können - neue Armutsgrenzen, neue Trennlinien um Flüchtlingslager oder kaum definierte Abschnitte von Flughäfen, deren Insassen unsichtbar werden und ohne Rechtsstellung bleiben.
Über Aufteilungen und Übergänge zu diskutieren, impliziert eine moderne westliche Episteme, die sich insofern als unangemessen erwiese, als sie vorgäbe, westlichen Maßstäben folgend auch auf andere Teile der Welt zu passen. So wird zum Beispiel angenommen, die globalisierte Moderne sei westlicher Prägung, und aus einem selbstkritischen westlichen Blickwinkel oder, anders noch, aus der Perspektive postkolonialer Kritik, ist das auch nicht falsch. Dies hängt sicher von der jeweiligen Definition von Moderne ab, doch die Überwindung des westlichen epistemischen Paradigmas selbst verlangt, dass die Definition von Moderne sich anderen Himmelsrichtungen öffne: nicht nur in Verbindung mit ihrer westlichen Herkunft, sondern von ihr unabhängig und in die Zukunft gerichtet.

Der partage de la raison führt zu Ausschluss, denn der Verstand (raison) ist normativ. Er erhebt sich zur Norm, wenn er den Wahnsinn ausschließt, indem er ihn als andersartig bezeichnet. Folglich sind jene ausgeschlossen, die als "verrückt" (oder als gegen die Vernunft, gegen den Verstand: leidenschaftlich, unreif, primitiv, unterentwickelt) bezeichnet werden. Da sie als unverständig und unvernünftig gelten, wird angenommen, man könne sie vernachlässigen oder eliminieren. "Es ist ein wohlgehütetes Geheimnis, dass Europa als Gesamtheit politischer und moralischer Werte, das universelle Geltung beansprucht", schreibt Eleni Varikas, "seine moderne Identität nur in einem langen Prozess tatsächlicher und symbolischer Unterdrückung des Nicht-identischen innerhalb wie außerhalb seiner Grenzen finden konnte.

Der westliche Begriff von Universalität (ein bestimmter historifizierter Universalismus, denn es versteht sich von selbst, dass es noch andere gibt) war stets mit der europäischen Geschichte und dem Westen verbunden, er diente als Werkzeug kolonialer Ausdehnung, sowohl für zahlreiche Eroberungen als auch für die Verbreitung der westlichen, in der Globalisierung vollendeten Moderne. Er war der Verbündete von Hegemonie und Herrschaft.

Der Begriff « partage de la raison » hat den Vorteil, Verstand und Identität, zwei unterschiedliche Vorstellungen, die die Fragestellung erschweren und undurchsichtig machen, in der Mitte zu teilen. Der Verstand, solange er in Bewegung ist, betreibt bereits eine Verknüpfung von Spaltungen. Es ist der Moment des Stillstands, wenn der Verstand erstarrt, in dem « Identitäten » entstehen. Die identitätsstiftende Geste, die darauf beruht, den Wahnsinn vom Verstand auszuschließen, überhäuft die Genealogie des Verstandes (die in ihrem Ursprung untrennbar mit dem Wahnsinn verbunden ist) und erlaubt, alles Zurückgewiesene als « außerhalb des Selbst » zu betrachten. Während mancher Abschnitte der Geschichte neigte man besonders dazu, alles im Inneren angestaute Negative auf « den anderen » zu projizieren : die verschiedenen Parias, Hexen, Juden, Schwarze, eingeborene Bevölkerungen, Frauen usw. wurden so dämonisiert als das unannehmbare « Andere », dem man aus dem Weg geht und das auf individueller oder kollektiver Ebene zum Sündenbock der « guten » Gesellschaft (also der dominierenden Schicht) wird.

Jetzt, da es immer weniger oder überhaupt kein « außerhalb » mehr gibt, da die Grenzen des Kalten Kriegs gefallen sind, da man das eigene Übel nicht mehr auf den anderen projizieren kann… Was wird aus der Figur des Paria? Können wir uns den anderen auf einem anderen Weg als dem der Besitzergreifung nähern ? Wenn wir es je können, werden wir Hindernisse wie Grenzen und Trennungen hinter uns lassen, wir werden die erstarrte Konstruktion tödlicher und konstituierter Ausschlüsse überwinden und durch die ständige Herausforderung des außergewöhnlichen und anderen in einer unvollendeten, zu konstituierenden Weise fortfahren.



Der vorliegende Text entstammt dem Bericht Exception as Space & Time : Borders and Partitions anlässlich des Kolloquiums « Conflicts, Law and Constitutionalism », das vom 16. bis 18. Februar 2005 in Paris von der MSH (Maison des sciences de l’homme ) veranstaltet wurde.


________________

(1) E. Varikas, «Le “paria” ou la difficile reconnaissance de la pluralité humaine», dans Revue des deux mondes, novembre-décembre 1999, p. 353.
(2) Hans Mayer, Outsiders. A Study in Life and Letters, The MIT Press, Cambridge, Ma. 1982 ; Esther Cohen, Le Corps du diable. Philosophes et sorcières à la renaissance, Lignes/Léo Scheer, Paris 2004; Tumultes n° 21/22, «Le Paria : une figure de la modernité », novembre 2003, Tumultes n° 23, « Adorno. Critique de la domination. Une lecture féministe », novembre 2004.


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