Ref. :  000017429
Date :  2005-02-21
langue :  Allemand
Page d'accueil / Ensemble du site
fr / es / de / po / en

Immaterielles Erbe

Immaterielles Erbe

Source :  Christoph Wulf


Das immaterielle Erbe ist ein wesentlicher Teil des kulturellen Erbes der Menschheit. Mit folgenden Punkten wollen wir versuchen einige seiner Charakteristika darzulegen und seine Rolle in einer globalisierten Welt zu bestimmen: der menschliche Körper, der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken, Mimesis und mimetisches Lernen, Alterität, interkulturelle bzw. transkulturelle Bildung und philosophischer, historischer und kultureller Anthropologie

1) Während das materielle kulturelle Erbe in der Form architektonischer Werke leicht identifizierbar ist und bewahrt werden kann, so ist es viel schwieriger festzulegen, was zum immateriellen Erbe gehört und wie dieses geschützt werden kann. Gehören die architektonischen Werke zu dem materiellen kulturellen Erbe, so haben die „Erzeugnisse“, Elemente und Dimensionen des immateriellen kulturellen Erbes den menschlichen Körper als wichtigstes Medium. Au Grund dieser Unterscheidung gehören mündliche Überlieferungen, darstellende Künste, soziale Praktiken, Rituale, festliche Ereignisse und alle Formen traditioneller Arbeit zum kulturellen Erbe der Menschen.
Die Praktiken des immateriellen Erbes, die sich auf den Körper beziehen, sind durch den Fluß der Zeit, d. h. durch den zeitlichen Charakter des menschlichen Lebens, charakterisiert. Im Unterschied zu den architektonischen Werken, die relativ leicht erhalten werden können und kaum Veränderungen unterliegen, kommt es beim immateriellen Erbe zu schnellen und tiefgreifenden Veränderungen. Die menschlichen Lebenspraktiken verändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel: sie stehen im wechselseitigen Austausch mit der Dynamik gesellschaftlichen Lebens. Sie entwickeln sich weiter und reagieren daher auch viel empfindlicher auf die uniformierten Einflüsse der Globalisierung, vor denen sie auch viel schwieriger zu schützen sind.

2) Rituale haben vielfältige soziale Funktionen: So tragen sie z. B. dazu bei, den Übergang zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen zu organisieren. Ihnen kommt auch bei der Gestaltung wichtiger existentieller Situationen wie Geburt Hochzeit und Tod eine zentrale Bedeutung zu. Zu den Ritualen gehören Liturgien, Zeremonien und Feste, die häufig zu bestimmten Zeitpunkten im Verlauf des Jahres statt finden. Wenn sie erfolgreich sind, so erzeugen sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl und tragen wesentlich zur Kohärenz und Stabilität von Gemeinschaften und Kulturen bei.

Viele „immaterielle“ Aspekte der Kultur werden durch Rituale sichtbar gemacht. Drei Aspekte sind dabei besonders wichtig: der performative Charakter, der in ritualisierten Situationen verwendeten Sprache; der Inszenierungs- und Aufführungscharakter von Ritualen und andere sozialen Praktiken, in denen sich Kulturen darstellen und ausdrücken; das Performative, das die ästhetische Seite der körperlichen Aufführung der Rituale und gesellschaftlicher Praktiken bezeichnet.
Rituale sind zentrale Praktiken im Bereich des immateriellen Erbes, weil sie es den Mitgliedern der Gesellschaft erlauben, kulturelle Überlieferungen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. Sie stellen daher eine Verbindung zwischen Tradition, Gegenwart und Zukunft her.

3) Die Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes werden von der nachwachsenden Generation in mimetischen Prozessen erlernt. In deren Verlauf erfolgt eine Annäherung an kulturelle Vorbilder. Mit ihrer Hilfe lernen junge Menschen sich darzustellen und über sich selbst zu verfügen. In mimetischen Prozessen verinnerlichen sie die soziale Welt; dabei wird das immaterielle kulturelle Erbe an die junge Generation weiter gegeben und von dieser interpretiert.

4) Nur durch die Sensibilisierung für Differenzen und Alterität kann eine Uniformierung von Kultur in Folge der Globalisierung vermieden und kulturelles Erbe und kulturelle Vielfalt erhalten werden. Rituale, künstlerische Prozesse und soziale Praktiken in Formen des immateriellen Erbes spielen für die Erfahrung des Anderen eine zentrale Rolle.
Die uniformierte Kultur der Globalisierung hat drei Strategien entwickelt, um Alterität auf Gleichheit zu reduzieren und die faszinierende und auch verunsichernde Erfahrung des Anderen zu vermeiden. Bei diesen handelt es sich um die erkenntnistheoretischen, psychologischen und kulturellen Dimensionen, die mit den Begriffen „Egozentrismus“, „Logozentrismus“ und „Ethnozentrismus“ verbunden sind, die im Prozess der Globalisierung eine zentrale Rolle spielen. Denn mit ihrer Hilfe wird der Versuch gemacht wird das „Fremde“ dem Vertrauten anzugleichen und es dadurch einzugemeinden.

5) Die Fähigkeit Alterität erfahren zu können, ist eine Voraussetzung für die Bereitschaft, sich mit anderen Menschen und Kulturen auseinander zu setzen. Dabei spielt die Begegnung mit anderen Menschen aus fremden Kulturen, mit dem Unbekannten der eigenen Kultur und mit dem Anderen in der eigenen Person eine zentrale Rolle. Ohne solche Erfahrungen ist es nicht möglich, heterologisches Denken zu entwickeln und einander zu verstehen. Um jedoch die junge Generation für diese Dimensionen „kultureller Mannigfaltigkeit“ und „immateriellen kulturellen Erbes“ zu sensibilisieren, muss Erziehung heute interkulturell bzw. transkulturell sein.

6) Um die Menschen für die Erhaltung des immateriellen kulturellen Erbes zu sensibilisieren und die Dynamiken des historischen Wandels zu verstehen, sind umfassende anthropologische Studien nötig. Diese müssen wenigstens die drei Hauptströmungen gegenwärtiger Anthropologie umfassen. Zu denen gehören: erstens die philosophische Anthropologie, die einen deutschen kulturellen Hintergrund hat, die den offenen Charakter der menschlichen Geschichte verdeutlicht und die die Bedeutung der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit betont; zweitens die historische Anthropologie, die ihren Unsprung in der französischen Schule der Annales hat, die auf den historischen Charakter der menschlichen Kultur verweist; und drittens die angelsächsische Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, die Fragen der kulturellen Vielfalt und Heterogenität thematisiert.

Anthropologie kann zu einem besseren Verständnis des komplexen Verhältnisses beitragen, daß zwischen dem immateriellen Erbe und der Dynamik des historischen Wandels besteht; sie kann sich darum bemühen, Lösungen für die damit verbundenen Schwierigkeiten und Probleme zu finden. Diese müssen in den jeweiligen historischen und kulturellen Kontexten gefunden werden. Einen universellen Weg, diese Probleme zu lösen, gibt es nicht. Ein Bewußtsein dieser Schwierigkeiten ist jedoch ein erster wichtiger Beitrag dazu, die Kontroverse über das immaterielle Erbe zu überwinden.


Literatur
Wulf, Ch.: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie, Reinbek: rowohlt 2004.
Wulf, Ch.: Anthropologie der Erziehung. Eine Einführung, Weinheim/Basel: Beltz 2001.
Wulf, Ch./Merkel, Ch. (Hg.): Globalisierung als Herausforderung der Erziehung, Münster/New York. Waxmann 2002.


Notez ce document
 
 
 
Moyenne des 178 opinions 
Note 2.47 / 4 MoyenMoyenMoyenMoyen
RECHERCHE
Mots-clés   go
dans 
Traduire cette page Traduire par Google Translate
Partager

Share on Facebook
FACEBOOK
Partager sur Twitter
TWITTER
Share on Google+Google + Share on LinkedInLinkedIn
Partager sur MessengerMessenger Partager sur BloggerBlogger
Autres rubriques
où trouver cet article :