Ref. :  000001078
Date :  2001-06-11
langue :  Allemand
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Gedächtnis und Globalisierung

Gedächtnis

Source :  Reyes Mate


Einige politische Theoretiker, unter anderem Ullrich Beck, sehen die Globalisierung als die « zweite Moderne » oder ein „zweites Zeitalter der Erleuchtung (Aufklärung)“.
Alle Bedingungen seien erfüllt, um den alten Traum von Universalität endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Aus den Analysen geht hervor, dass jene Universalität sich dem Raum gegenüber eröffnet, nicht jedoch gegenüber der Zeit, als ob es eine geheime Überzeugung gäbe, dass die Vergangenheit und die Erinnerung an die Vergangenheit gefährlich seien.

Was kann „die Zeit ernst nehmen“ bedeuten? Was trägt das Gedächtnis von dieser Welt zur Globalisierung bei, oder was entzieht es der Globalisierung? Allgemein gesagt, bedeutet „die Zeit ernst nehmen“ das erfahrungsgemäße Wieder erkennen eines theoretischen Wertes. Nehmen wir als Beispiel den Fall der Gerechtigkeitstheorie. Man kommt nicht auf dasselbe Ergebnis, wenn man eine Theorie der Gerechtigkeit erstellt, indem man von der Erfahrung der Ungerechtigkeit ausgeht, als wenn man in der Abstraktion die Essenz von Gerechtigkeit jenseits der Erfahrung der Menschheit sucht. Ich stelle fest, dass alle Theoretiker darin übereinstimmen, dass die Erfahrung von Ungerechtigkeit der Ausgangspunkt für eine Theorie der Gerechtigkeit ist, aber diese bleibt begrenzt im Kontext der Entdeckung und nicht des Verstehens. Die zahlreichen Ungerechtigkeiten in der Welt rechtfertigen, dass Gerechtigkeit die unmittelbar dringendste Aufgabe der Politik wird, sie bedeuten aber auch, dass – sobald man beginnt eine Theorie zu erstellen - erklärt wird, eine Abstraktion der gelebten Erfahrung sei notwendig. Deswegen appelliert Rawls an das Bild „der Schleier der Ignoranz“ und Habermas an „die ideale Sprechsituation“. Den theoretischen Wert der Erfahrung geltend machen, bedeutet zu verstehen, dass jegliche Theorie eine Antwort auf eine bereits gegebene Situation ist. Das Beispiel der Gerechtigkeitstheorie ist in jeder Sprache gültig.
Sprache lässt sich als ein kreativer Akt verstehen, der durch sich selbst, oder als eine Antwort auf die Stimme der Dinge und Ereignisse, der Welt ihren Sinn gibt. Walter Benjamin erklärt den Mythos des Sturzes/Falls als einen sprachlichen Missbrauch. Der Mensch will Gott sein: anstatt sich darauf zu beschränken die Dinge zu benennen, im Einverständnis mit der sprachlichen Natur, wollte er ihnen einen Namen erfinden. Das Resultat ist, dass er seine normative Kapazität dabei verlor. Jene sprachliche Funktion wiederzugewinnen bedeutet zu verstehen, dass der Verstand ist, wie Heidegger sagt. Gedacht setzt sich bei ihm zusammen aus Gedächtnis und Danken.
Beim Denken die Zeit zu berücksichtigen bedeutet, diesen zweiten oder reaktiven Charakter der Vernunft wahrzunehmen. Die Menschen und die Dinge besitzen eine sprachliche Geschichte, daher wird die Vernunft geboren, gebunden an eine Vergangenheit, die ihr gefährlich ist.

Welchen Einfluss hat die Präsenz der Zeit auf die Globalisierung? Sie wirkt auf deren Fluss/ Verlauf. Jaques Poulain fasst es in seinem Artikel Public et Privé treffend zusammen: Die Globalisierung präsentiert sich uns in der Verkleidung der liberalen Moral, oder in anderen Worten, als radikale Gleichheit aller Menschen. Das grausame Spiel des freien Wettbewerbs ist somit doppelt gerechtfertigt: a tergo durch die Bestätigung einer Gleichheit oder einer radikalen Symmetrie zwischen den Menschen, diese sind begründet in einem pendelndem Paradoxon, das bei der Biologie beginnt (wir entstehen alle auf gleiche Art und Weise), und beim kategorischen Imperativ einer ethischen Moral aufhört (alle Menschen sind Enden und nicht Mittel); und a fronte durch die Überzeugung das der freie Wettbewerb zwischen Gleichgestellten allen zugute kommt.
Also kann nur bei Missachtung der Zeit von einer liberalen Moral gesprochen werden. Wenn Rousseau unterstreicht, dass der Ursprung der Ungleichheit nicht in der Natur, sondern in der Geschichte liegt - produziert durch die Freiheit der Menschen - dann verurteilt er moralisch die existierenden Ungleichheiten: die Ungerechtigkeiten. Verweilen wir einen Augenblick (was Rousseau nicht tat) bei dieser entscheidenden Entdeckung: wenn die existierenden Ungleichheiten durch den Menschen selbst produziert werden, dann ist der Mensch nicht nur Auslöser der Ungleichheit, sondern er „produziert sich“ selbst oder stellt sich selbst als verschieden dar. Hermann Cohen oder Unamuno sagen, dass das Leiden das Prinzip der Individualisierung sei; damit signalisieren sie, dass der Mensch sich im Verlauf der Geschichte singularisiert auf Grund der Ungerechtigkeit die ihm vom Anderen angetan wird. Was wir Moral nennen, wird laut Levinas nicht aus der Gleichheit heraus geboren, sondern aus der Tatsache, dass die unendlichen Forderungen dem Armen, dem Fremden, der Witwe und der Waisen dienen, in einem Punkt des Universums zusammenlaufen. Alle Menschen sind ungleich, weil hinter jedem einzelnen eine historia passionis steht, die ihn zum Individuum macht. Jeglicher Diskurs über Gleichheit muss diese Historie unberücksichtigt lassen.

Was aufs Neue das Gedächtnis in die politische Theorie einbringt, ist die moralische Qualifizierung der Realität. Wenn der Liberalismus eine moralische Legitimation für seine Wirtschaftspolitik erfinden kann, dann nur – wie bereits gesagt – auf der Basis der Ungleichheit. Also ist es die Erinnerung, durch die wir entdecken, dass hinter der Maske der Gleichheit eine Wirklichkeit der Ungleichheit existiert. Tatsächlich ist das Gedächtnis der Ausgangspunkt, um die existierende Ungleichheit wie ein Werk menschlichen Tuns politisch zu erklären. Und wenn die Ungleichheit historisch bedingt ist – und eben nicht ein Resultat der Natur oder des Schicksals ist, dann folgt daraus, dass jede neue Generation, die ihren Platz in der Welt einnimmt, ein Erbe empfängt - das Erbe einer ungleichen Welt, entstanden aus den Ungerechtigkeiten der Altvorderen. Für diese Welt wird die jeweilige Generation verantwortlich, wenn sie es akzeptiert, sich mit dem Milieu, oder dem Erbe, dem sie selbst entspringt, zu identifizieren.

Wohin führen uns diese Überlegungen? Zur Notwendigkeit eine nicht nur räumliche, sondern auch eine zeitliche Universalität zu entwerfen. Wenn die politische Dynamik der ökonomischen Globalisierung einer räumlichen Globalisierung nahe kommt, kann uns nur – wie bereits erwähnt - die zeitliche Betrachtung zu einer allgemeinen moralischen Verbreitung führen. Man beobachtet mit Besorgnis, dass die politischen Vorschläge, die inspiriert vom guten Willen einer moralischen Demokratie gemacht werden, sich auf die Verbreitung des Bürgers beziehen, oder in den Worten Habermas’ auf den Schritt vom Staatsbürger zum Weltbürger. Diese moralisch korrekte, politische Antwort, besteht daraus, die Figur des Bürgers dermaßen zu verallgemeinern, dass sie sich den westlichen Wohlstandsstaaten ergibt.
Was wir hier versuchen aufzuzeigen, ist, dass dieser Bürger oder Staatsbürger sich nicht einer guten moralischen Gesundheit erfreut, denn er ist jemand Anderes, nämlich der Erbe vergangener Ungleichheiten, der seit seinem Entstehen mit den anderen Erben vergangener Ungerechtigkeiten konfrontiert wird,. Zwischen diesen beiden Hinterlassenschaften besteht eine Beziehung, weil sie vom Menschen verursacht wurden - unseren Vorfahren. Die vorstellbare und moralisch akzeptable Universalität, kann unmöglich die Verbreitung eines unschuldigen Modells sein - jenes des westlichen Bürgers. Das Gedächtnis der Globalisierung hat erkennen lassen, dass dieser Bürger nur dank der Geschichtsphilosophen möglich war, die den Menschen mit einem Europäer verwechselten. Der Preis seines Erfolges war die Niederlage jenes Anderen, den wir heute auf unseren sozialen Status erheben wollen.
Die Globalisierung lehrt uns dass der Eingeborene des Chiapa – Stammes oder der Arbeiter aus Singapur ohne die Solidarität des reichen Westens nicht Bürger werden kann. Aber jene Bürgerschaft wäre moralisch nur akzeptabel, wenn der der vermeintliche Bürger des Westens die Solidarität nicht als eine großzügige und freiwillige Gabe anbieten würde, sondern als eine Antwort auf ein historisches Bedürfnis.




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